Freitag, 29. Dezember 2017

Lutz Kleveman - Lemberg

Das vorliegende Buch habe ich mit zwei Gefühlen beendet: Zufriedenheit als auch Schock. Ist es nicht erstaunlich, dass ein (nominal) Geschichtsbuch diese Reaktionen auslösen kann? Möglich, aber vielmehr spricht dies für die Qualität des Werkes. In "Lemberg" beschäftigt sich Kleveman mit der Geschichte der Stadt in der Nähe der ukrainisch-polnischen Grenze seit etwa 1900. Kurz zusammengefasst teilt Lemberg (heute Lviv) das Schicksal vieler anderer Städte in Mittel-/Osteuropa, welche ehemals quasi habsburgische Vielvölkerstädte bestehend aus Slawen, Deutschen und Juden waren: Breslau, Wilnius, Tschernowitz, Krakau, ... : es krachte immer mal, aber man lebte zusammen/nebeneinander. Die Habsburger hatten die ordnende Hand von oben. Durch den aufkommenden Nationalismus seit Beginn des Jahrhunderts bildeten sich hochexplosive Potentiale der Gewalt. Gleichzeitig griffen die mörderischen Diktaturen von Stalin und Hitler ein. Das alles zusammen zerstörte neben millionenfachem Leben so gut wie alles an Kultur und Charakter der alten Städte, so dass heute so gut wie nichts mehr davon übrig ist.

Eine derartige Komprimierung wird natürlich der Wirklichkeit nicht gerecht, denn eine Objektivierung des Geschehens ist der Definition nach zutiefst unmenschlich. Um sich also dem Thema tiefer (und damit menschlicher) zu widmen, sollte man nach dem vorliegenden Buch greifen. 

Link
Kurz ein paar allgemeine hinführende Gedanken, welche jedoch nicht unwichtig für das Verständnis sind: Kleveman bedient sich bei der Herangehensweise seines Buches einer sehr persönlichen: Er beschreibt die Evolution seines Erkenntnisprozesses, welcher in seinen mehrfachen Aufenthalten in Lemberg vonstatten ging. Dies strukturiert das Buch historisch, aber vor allen Dingen macht es das Lesen spannend. Man erfährt mit ihm immer neue Facetten, welche einen meist ähnlich bewegt zurücklassen wie den Autor selbst. Nach den einleitenden Kapiteln, welche schön das Stadtbild beschreiben, widmet sich der Autor dem pulsierenden Wissenschafts- und Kulturleben der Zwischenkriegszeit. Auch diese Kapitel sind anregend geschrieben. Gleichzeitig bekommt man interessante Einblicke und ungute Ahnungen bezüglich der Fragilität des Zusammenlebens zwischen Polen, Ukrainern und Juden. Polen und Ukrainer schauen sich stumm an, aber schon mit Messern zwischen den Zähnen. Die Juden hingegen leiden schon ein wenig unter dem polnischen Antisemitismus, aber lassen sich davon das Leben nicht vermiesen. 

Und nun kommen eigentlich nur noch immer herzzerreißendere Kapitel voll mit Leid und Schrecken für die Lemberger Bevölkerung. Zu Beginn der Krieges marschiert die Sowjetunion ein und liquidiert im Namen ihrer Staatsideologie das freigeistige Leben mit einem Schlag genau wie polnische und ukrainische Menschen, die sich nicht fügen wollen. Es kommt so weit, dass es für die betroffenen Lemberger vielversprechender aussieht, nach Deutschland zu fliehen oder die Wehrmacht herbeizusehnen. Als dies dann tatsächlich eintritt, wird aber alles nur viel schlimmer. Sofort beginnt die systematische Ausrottung von Menschen auch in Lemberg. 

Ab hier macht Kleveman einen starken Schwenk zum Mord an der jüdischen Bevölkerung und findet einige noch lebende ukrainische Zeitzeugen, mit denen er Interviews führt und in denen er das Thema der bereitwilligen ukrainischen Kollaboration (sowohl durch  militärische Verbände als auch Zivilbevölkerung) beim Massenmord an den Juden anspricht. Er trifft durchgehend auf Schweigen und Ablehnung. Mit allem Recht schockiert das eingedenk der Tatsache, dass am Ende des Holocaust in Lemberg und Galizien im Prinzip restlos alle Juden ermordet wurden. Folgt man der Art der Gespräche jedoch aufmerksam, so erschleicht einen durch die bohrende und ungläubige Art der Fragestellung durch Kleveman auch ein bekanntes Gefühl: das der heutigen deutschen Sichtweise auf die Zentralität bzw. Alleinstellung des Holocausts als Verbrechen des Krieges. In einem Gespräch behauptet Kleveman sogar, dass "Erfahrung und Aufarbeitung des Holocaust inzwischen Teil der europäischen Identität ist, so dass die Ukraine erst dann kulturell politisch zu Europa gehören kann, wenn das Land sich selbstkritisch seiner Geschichte zwischen 1941 und 1944 stellt". Sein Gegenüber spöttelt über diese Arroganz nur und verweist ihn auf ein dem Autor bisher unbekanntes Vernichtungslager der Wehrmacht mitten in Lemberg.

Lutz Kleveman (Link)
In diesem wurden sowjetische Kriegsgefangene sofort nach Beginn des Russlandfeldzugs systematisch in unvorstellbaren Zahlen ermordet: während im ganzen Krieg etwa 9000 Amerikaner und Briten in deutscher Gefangenschaft umgekommen sind, war dies allein in Lemberg - also in einer Stadt! - die Sterberate EINES Tages. Kleveman schluckt und muss eine wichtige Erkenntnis realisieren: das Morden des Hitlerregimes, der SS, der Wehrmacht und der entmenschlichten Deutschen bezog sich auf ALLE Menschen, die aus Nazisicht eben keine Menschen waren. Dazu gehören Juden, Russen, Behinderte, Alte, Schwache und Widerständler genau wie Deutsche.

Wohingegen die Erkenntnisse zum sehr verletzlichen Nationalgefühl der Ukrainer und der damit verbundenen Ablehnung der Beschäftigung mit ihrer eigenen verbrecherischen Vergangenheit in diesen Zeiten absolut richtig erscheinen, stimmt auch folgendes Zitat mit Bezug auf die (west-)deutsche Weigerung, sich mit den 3,5 Mio. toten sowjetischen Kriegsgefangenen überhaupt jemals zu beschäftigen: "Dessen eingedenk, mit welchem Recht kann man als Deutscher den Ukrainern eigentlich vorwerfen, ihre dunkle Vergangenheit von 1941 bis 1944 nicht schnell und kritisch genug aufzuarbeiten?"

Auch wenn 2015 der Bundespräsident Gauck in klaren Worten diese fehlende Seite der Aufarbeitung anerkannt hat, so gilt (aus meiner Sicht) dieses Mantra in Zusammenhang mit dem Holocaust doch unverändert: Man darf diesen nicht in Zusammenhang mit anderen Völkermorden setzen, er könnte seiner Singularität beraubt werden. Dazu passt dann aber auch folgendes Zitat aus dem Buch, als Kleveman ein altes fast unberührtes Labor eines Mediziners findet: "Läge das ehemalige Weigl-Labor irgendwo in Westeuropa, wäre hier längst ein Museum eingerichtet wurden, dass dem Besucher die Vergangenheit zugänglich machen aber auch das Spektrum emotionaler Reaktionen eingrenzen würde". Gut zusammengefasst wird hier die Dualität der positiven und negativen Seiten der Erinnerungskultur.

Lemberg (Link)
Zufriedenheit und Schock. Zufriedenheit über die neu erlangten Erkenntnisse, aber vor allem über den miterlebten Erkenntnisprozess des Autors: von verengt zu erweitert, von einfach zu komplex, von einer zu mehreren Wahrheiten. Schock aber über allem stehend ob der geschilderten Ereignisse und deren Bestialität.

Zuletzt sei noch gesagt, dass die gewonnenen Erkenntnisse und deren Auffächerung in verschiedene Sichtweisen auch das Verständnis der Konflikte innerhalb der Ukraine erleichtern. Aber das nur nebenbei (auch wenn es aktuell wohl fast der wichtigere Aspekt ist, da dies Aktuellgeschehen ist und das andere Vergangenheit). Ein extrem gut geschriebenes Buch, das den Geist anregt und erweitert.


Sonntag, 3. Dezember 2017

Sofi Oksanen - Als die Tauben verschwanden

Sofi Oksanen (Link)
Heute, am Tag des ersten Schnees dieses Winters, verschlägt es einen in estnische Gefilde der Vergangenheit. Sehr passend also. Estland um 1941 - 1943 herum: Die Sowjetunion hält das Land besetzt und jagt aufständische Rebellen in den verschneiten Wäldern. Die Rebellen wiederum, aber auch viele der passiven Esten, richten ihre Hoffnungen wiederum ganz auf Nazideutschland. Bald würde die Wehrmacht einmarschieren und den Esten gegen die russischen Besatzer beistehen. Dass dafür Juden drauf gehen werden, nun gut, das muss dann wohl so sein. Es gab auch damals schon sowieso nicht viele davon in Estland. 

In diesen paar Sätzen liegt schon der spannende (und weithin nicht bekannte) Hintergrund, vor dem sich die Geschichte abspielt. Eine Dreiecksgeschichte, welche alle Facetten der möglichen Handlungsoptionen damals abbildet, ohne zu holzschnittartig zu wirken. Roland, der Rebell, Edgar sein opportunistischer Vetter und Juudit, Edgars hin- und hergerissene Frau. 

Link

Man erfährt viele interessante Einzelheiten der damaligen Zeit und bekommt ein sehr unterschiedliches Erzähltempo angeboten: mal sehr detailliert, nur um dann sprunghaft wichtige Informationen in kurzen Sätzen zu erfahren. Aber das ist interessant so, es hält die Spannung aufrecht. Zudem springt die Zeitebene zwischen der damaligen Zeit und etwa 20 Jahre später stattfindenden Ereignissen hin und her. Auch das ist ein dramaturgisch gelungener Kniff, denn auch die Veränderungen der Hauptpersonen sind so, dass man dran bleibt. Man will wissen, was passiert ist.


Prinzipiell ist das Buch recht stringent mit einfachen Sätzen geschrieben. Aber das ist nicht der Grund, warum bei mir eine gewisse Leere übrig bleibt. Es liegt vermutlich daran, dass das Hauptaugenmerk auf den Personen liegt, welche einem nicht unbedingt so sympathisch sind. Die Figur des Rolands hat das Potential zum Helden, ihr wird jedoch deutlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt als der des Edgars oder Juudit. Und von einem Happyend kann man bei "Als die Tauben verschwanden" ganz gewiss nicht sprechen. Insofern ein recht trostloses Buch, aber so ist die Realität ja auch hin und wieder. Trotz allem also ein positiv zu sehendes Buch

Sonntag, 5. November 2017

Alexander Solschenizyn - August Vierzehn

"August Vierzehn" ist ein dickes Buch. Im Titel trägt es bereits etwa eine Zusammenfassung des Inhalts. Es geht um den Moment des Kriegsbeginnes 1914 in Russland. Am Anfang und am Ende gibt es einige Kapitel, die sich mit gewöhnlichen russischen Bürgern bzw. Schichten beschäftigen. Immer aus Sicht einer der Personen der Schicht werden Aspekte der damaligen Atmosphäre aufgezeigt. Diese Aspekte widersprechen sich auch durchaus, geben damit aber nur die damals gespannte Lage in Russland wider. 

Link
Im Hauptteil des Buches geht es jedoch um die Schlacht von Tannenberg. Eine der ersten Schlachten des 1. Weltkrieges, ging sie in die Geschichte ein als vernichtende Niederlage des russischen Heeres gegen die deutsche Armee und als für die Russen böses Omen für den gesamten Krieg. Die Russen planten das im äußersten Nordosten Deutschland gelegene Ostpreußen von zwei Seiten (Süden und Nordosten) anzugreifen und verwendeten dafür zwei Armeen unter den Kommandos von General Samsonow und General Rennenkampff. Durch vielfache Mängel in Vorbereitung und Kompetenz des Führungsstabes sowie Ausrüstung der Armee und nicht zuletzt der gegenseitigen Abneigung der beiden Generäle ging die Schlacht verloren. Viel schlimmer: die fast komplette Armee von General Samsonow wurde vernichtet oder ging in Gefangenschaft, Samsonow erschoss sich auf dem Schlachtfeld. Dieser dramatische Ausgang kam nicht zuletzt aufgrund der gegenseitigen Abneigung der beiden Generäle zustande. Während Samsonow vom Süden aus energisch in den Rücken der deutschen Armee vorstoßen sollte, blieb Rennenkampff lethargisch und gewann kaum an Boden. Dadurch kam es zu einer kompletten Umschließung der Armee Samsonows und ihrer Vernichtung.

Im Buch werden aus den Perspektiven von Samsonow und seiner Soldaten (sowohl weitere Generäle als auch normale Soldaten) brillante Charakterstudien, die einen tiefen Einblick in die Vorgänge und Katastrophen während des Krieges ermöglichen. Obwohl in Romanform, sind die Fakten historisch verbürgt und müssen einen unglaublichen Rechercheaufwand nötig gemacht haben.

Alexander Solschenizyn (Link)
Spannend ist diese breite Betrachtung vor allem deswegen, da die Schlacht von Tannenberg als in den schicksalsträchtigen Verlauf des Krieges an der Ostfront eingebettete Schlacht für sich selbst schon dramatisch und tragisch genug war. Zudem entschied sich aber im Prinzip in dieser Woche sowohl im Osten als auch im Westen der Krieg für Deutschland schon. Eine eigentlich unglaubliche zugegebenermaßen bekannte historische Wahrheit ist: Nach den ersten vier Wochen des Krieges war die Chance zur Erreichung der deutschen Kriegsziele schon in sehr unrealistische Regionen gesunken. Dass es aufgrund der politischen Gemengelage sowohl auf der Seite der Zentralmächte als auch der Westmächte sowie Russland nicht möglich war, den Krieg hier abzubrechen, steht leider auf einem anderen Blatt.

Prinzipiell ist auf 750 Seiten ein großer Detailreichtum zu erwarten. Das kann natürlich gefährlich sein. Ein gewisses Grundinteresse für das Subjekt muss schon mitgebracht werden. Eine Karte im Buch ermöglicht ein besseres Verständnis der Schlachtengegend um die masurischen Seen. Doch ist es aus meiner Sicht unmöglich, inhaltlich mitzukommen, wenn man sich nicht extern ein wenig über die Truppenbewegungen informiert. Glücklicherweise sind diese in einschlägigen Internetseiten (nicht Wikipedia!) gut dokumentiert.

In seiner Beschreibung der Tragik dieser Woche ist Solschenizyn hier ein ausladendes, aber im Tiefen dann doch mitreißendes Werk gelungen, welches aufzeigt, wie abhängig Geschichte doch sowohl von grundsätzlichen Gesetzmäßigkeiten aber auch von Einzelpersonen bzw. Einzelentscheidungen ist. Als Teil seiner Reihe "Das rote Rad" ist "August Vierzehn" der Einstieg in die Verwandlung des bereits siechenden russischen Zarenreiches in die Umwälzungen während des Krieges bis zur Oktoberrevolution. Drei weitere Bücher beschäftigen sich dann damit. Ich bin gespannt, wie das zweite Buch ist. Dieses jedenfalls ist gleichermaßen historisch als auch menschlich geschrieben, dass es uneingeschränkt zu empfehlen ist.

Sonntag, 9. Juli 2017

Olga Grjasnowa - Der Russe ist einer, der Birken liebt

Eine der beliebtesten Floskeln in der Schulzeit ist ja jene, nach der einen "das gelesene Buch zum Nachdenken angeregt hat". Üblicherweise soll das ein Zeichen dafür sein, dass das Buch gut, weil anspruchsvoll und bereichernd war. Im vorliegenden Fall kann ich auf jeden Fall sagen, dass mein Nachdenken durch die Lektüre angeregt wurde. Was ich nicht sagen kann, ob das ein gutes Zeichen ist.

Link
Nun, bleiben wir erstmal bei den harten Fakten. Durchgelesen wurden die knapp 280 Seiten in einem Abend und einem folgenden Morgen. Was heißt das? Es ist recht lesbar geschrieben, der Stil ist flott und erfrischend. Die Geschichte, die erzählt wird, handelt von Mascha, einer jungen aserbaidschanisch-jüdischen Frau, die in Frankfurt äußerst kosmopolitisch lebt. Sie hat libanesische Geliebte, türkische Schwulenfreunde und zu allem Überfluss auch noch einen ostdeutschen Freund. Gipfel der Exotik! Allen ist jedenfalls gemeinsam, dass sie intellektuell sind und auch halbwegs beruflich/studentisch erfolgreich sind. Man begleitet das äußerst sprunghafte Leben von Mascha, die sehr früh im Roman verkraften muss, dass ihr Freund durch eine nicht mehr beherrschbare Sportverletzung stirbt. Sowieso schon ausgestattet mit dem Päckchen ihrer Herkunft und den traumatischen Erfahrungen aus dem aserbaidschanisch-armenischen Bürgerkrieg baut ihr psychischer Zustand immer mehr ab. Im zweiten Teil des Buches entschließt sie sich, nach Israel zu fliehen. Dort zerfasert ihr Leben allerdings nur weiter und am Ende steht sie ziel- und richtungslos in der Sinai-Wüste.

Ich versuche systematisch vorzugehen, da ich mir meiner Meinung zum Buch noch immer nicht sicher bin. Positiv ist die Sprache, der Schreibstil im Buch. Grjasnowa kann sich sehr reduziert ausdrücken und damit doch einiges aussagen. Teilweise sind wirklich sehr schöne poetische Sätze zu finden, über deren Schönheit man sich erst nach einer Weile klar wird.

"Ich spürte seinen warmen Atem, der nach Mandeln roch, und wenn Vater vorher getrunken hatte, brachte er mich ins Bett, ließ mich das Nachthemd überziehen und gab mir einen Kuss, seine Bartstoppeln kratzten an meiner Wange, und er strich über mein Haar. Dann legte er seine Hand genauso zärtlich an den Heizkörper wie zuvor auf meinen Kopf und ging aus dem Zimmer."

Vorteilhaft ist auch, dass es gelungen ist, die Handlung, die einige Wendungen und viele Personen hat, in diese 280 Seiten zu bekommen. Man hätte sicher auch sehr viel mehr schreiben können. Interessant ist natürlich auch der Einblick ins gebildete "Milieu" bzw. in die gebildete junge Generation von Einwandererkindern. 

Olga Grjasnowa (Link)
Was mich an dem Buch stört und mir teilweise das Lesen verleiden konnte, war folgendes: Vereinfacht gesagt ist Mascha immer Opfer und selbst wenn sie Täterin ist, muss man zwischen den Zeilen lesen, dass sie nur deswegen "böse" wurde, weil sie traumatisiert von dieser Welt ist. Oft wird diese Konstruktion durch eine gewisse Ironie in Maschas Worten abgefedert. Sie ist sich in gewissen Momenten dieses Faktes also bewusst. Und ja, es gibt Leben, die sind sehr opferreich. Nun kommt aber noch dazu, dass vom Gefühl her ausnahmslos jeder Mann in dem Buch (bis auf ihre zwei ausländischen Freunde) ein Macho, fremdenfeindlich, berechnend-ausnutzend, kleingeistig, debil oder schmierig ist. Und auch hier: es gibt genug Männer, die so sind. Sogar welche, die alle Eigenschaften vereinen. Aber das Problem für mich ist ein praktisches: Dadurch, dass man weiß, dass Mascha immer Opfer ist und dass der Täter immer ein Mann ist, wird für das Lesen teilweise sehr viel Durchhaltevermögen erfordert. Nicht nur, dass man sie manchmal schütteln will um ihr zuzuschreien: "Mach die Augen auf! Reiß dich zusammen und denk mal nach! Gefühle sind nicht alles!", nein, es wird auch langweilig, weil man vorher weiß, was passieren wird. Ich weiß, man kann das alles aufgrund der posttraumatischen Belastungsstörung, die man selber nicht hat, nicht beurteilen. Und der Einblick in genau jene ist wertvoll, aber die platten Figurenbeschreibungen, immer wenn es ein Mann ist: das ist für mich ein handwerklicher literarischer Fehler, der dem Buch schadet. In diesen Momenten lässt er es billig und konstruiert wirken. Nur dadurch, dass diese Momente aufgrund der flotten Schreibweise und dem inhaltlichen Stakkato recht schnell vorüber gehen, habe ich dieses Buch nicht weggelegt. Man will schon wissen, wie es mit Mascha weitergeht, ohne Frage, das Buch ist spannend geschrieben. Glücklicherweise nimmt es im zweiten Teil in Israel den Fokus davon weg und hin zum Nahostkonflikt. Die Beschreibung dessen ist auch hier wieder interessant und knapp, aber doch wirklich hocheffizient gehalten. Mit wenigen Sätzen kann Grjasnowa tatsächlich viele Facetten dieser stetigen Problemlage beschreiben. Hut ab!

Mir ist noch immer nicht klar, was meine Meinung ist bzw. ich muss wohl einsehen, dass beides stimmt: das Buch ist gut und schlecht. Es ist hell und dunkel. Was allerdings ein gutes Zeichen ist: ich werde auf jeden Fall schauen, ob ich ein anderes Buch von ihr finden werde.

Samstag, 22. April 2017

Milan Kundera

Was ist der Zauber des Milan Kundera? Was fasziniert mich an ihm? Bei wenigen habe ich solche Schwierigkeiten, dies klar herauszuarbeiten. Ein mittlerweile 88 Jahre alter Mähre aus Brünn, lebt er schon Jahrzehnte nicht mehr in seiner Heimat. Ende der 70er-Jahre wanderte er aus der Tschechoslowakei nach Frankreich aus. Die Bücher, welche ich von ihm gelesen habe, drehen sich alle im Prinzip um zwei Subjekte: das Persönliche im Rahmen des Politischen. Genauer gesagt: das Zwischenmenschliche (und allzu menschliche) in der Situation des beginnenden und bestimmenden Sozialismus in der Tschechoslowakei. Er schreibt darüber, wie sich die Beziehungen zwischen Menschen in dieser historischen Situation verhalten. 
Link

So weit, so gewöhnlich. Um eine Faszination zu erläutern, bedarf es natürlich mehr. Wobei man natürlich immer auch die Frage stellen kann, ob es überhaupt möglich ist, etwas so subjektives wie Faszination objektiv zu erläutern. Nun, ich bin kein Anhänger des Gedankens, dass man Erklärungen zu unterlassen habe, weil man sonst Gefahr läuft, genau diesen Zauber zu zerstören. Bei diesen hoch persönlichen Zugetanheiten gibt es immer eine Geheimzutat, die kein Außenstehender verstehen kann. Und meistens man selbst eben auch nicht. Keine Gefahr also...

Ich würde Milan Kundera von seinem Stil ein wenig mit Javier Marias vergleichen: sehr transparente Einsichten in die Intentionen der Handelnden, stilmäßig eher knapp und klar, trotzdem sind die Sätze von Wärme getragen. Und wo Marias sich eher dem Mystery-Aspekt verschreibt, sieht sich Kundera oft als absolut auktorialer Erzähler mit der Macht, seine Figuren schicksalsträchtig hin und herzuschubsen. Aber - und das ist wichtig: stets mit einem gutmütigen Schmunzeln. Man stellt sich einen entspannten erfahrenen Erzähler vor, der auf seine Figuren blickt, sie liebt und gerade deswegen nie verurteilt. Er will ihre Intentionen herausstellen, egal, wo sie herkommen. Gerne erzählt er auch eine Anekdote, breitet seine (stets originellen) philosophischen Ansichten aus und manchmal wird er tatsächlich ein wenig böse, aber nie lang. Und wenn es ganz schlimm um seine Figuren steht, leidet er mit und erzeugt dieses Leid auch bei seinen Lesern. Auch das jedoch eher selten, Kundera weiß um die Vergänglichkeit von extremen Emotionen. Kurz: Kundera ist dein lebenserfahrener Lieblingsopa, der eine spannende Geschichte erzählt.

Link
Am besten gefallen mir seine Frühwerke, quasi bis zu seiner Emigration. Darauf basiert meine Einschätzung und Beschreibung seiner Schreibweise. Neuere Bücher habe ich bis auf "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" noch nicht gelesen. Dieses wohl bekannteste Buch von ihm hat mir nicht so gut gefallen wie seine frühen Werke. Nichtsdestotrotz fasst es die o.g. Punkte sehr gut zusammen. Es hat meines Erachtens jedoch einen Nachteil: es legt mehr Wert auf das Erzählpanorama, also auf das Ausbreiten und Ausgestalten der eher spärlichen Geschichte. Die Kritiker liebten es natürlich und es wurde verfilmt. Aber - wie schon gesagt - die frühen Geschichten sind jene, mit denen ich mich eher identifizieren kann.

Literaturkritiker teilen sein Werk in drei Teile ein: die oben erwähnten Frühwerke vor der Emigration, die Mittelperiode (mit der unerträglichen Leichtigkeit des Seins) und seine Spätwerke. Wollen wir mal sehen, was diese bieten. Empfehlen kann ich die Frühwerke, sie sind wundervoll komponiert.

Sonntag, 19. März 2017

Julian Barnes - Der Lärm der Zeit

Merkwürdig hin- und hergerissen ist meine Meinung zum vorliegenden Buch. Schnell runterzulesen war es. Und irgendwie trifft es das auch. Eher unmerkwürdig als vielmehr sehr konkret hin- und hergerissen war auch das Subjekt, um das es hier geht: Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch.

Link
Mutmaßlich der berühmteste russische Musiker des 20. Jahrhunderts, wurde er eben genau in dieses sehr bewegte Jahrhundert reingeboren (1906). Und so durfte und musste er gewissermaßen an vorderster Front alle atemberaubenden Entwicklungen, die da in Russland und Europa stattfanden, mitmachen.

Und - dumm - nichts lag ihm eigentlich ferner. "Mitja" war ein Mensch, der nicht da vorne stehen wollte. Vielmehr würde er lieber seinen Ausdruck in Musik finden wollen und diese für sich sprechen lassen. Es ist nicht so, dass er zurückgezogen leben will, wie das Klischee es bei solchen Künstlern nicht selten mal vorgibt. Aber er würde gerne ohne Schwierigkeiten leben. Doch das war in diesen Jahren ganz einfach zu viel verlangt.

Schostakowitsch schreibt, wird zum ersten Mal erfolgreich. Aber unglücklicherweise schreibt er "formalistisch". Ein Wort, welches heute kaum noch jemand kennt. Geprägt von den staatlichen Organen im Stalinrussland, bezeichnet es den angeblichen Hang von Künstlern, am Volk vorbeizuschreiben. Viel schlimmer: für die degenerierte Künstlerelite - nur um ihr zu gefallen. Für die artistische Bourgeoisie also. Schwer verständliche Kunst, meist mit interpretierbarem oder schlimmer - traurigem - Ende, genau dies durfte es nicht geben. Beim Aufbau des Sozialismus hatten alle an einem Strang zu ziehen, auch die Künstler. Und das ging nur, wenn Optimismus verbreitet wurde... Ein in mehrfacher Hinsicht perfider Gedankengang: dem "einfachen" Mensch wird nicht zugetraut, die kleinste Abweichung von Volksweisen zu erkennen und zu schätzen. Und man konnte aus staatlicher Sicht den Künstler an der kurzen Leine halten und für die eigenen Zwecke einsetzen, alles abgesichert durch die Fragen "Aber Genosse, willst Du denn nicht auch, dass es den Leuten besser geht? Warum hilfst Du ihnen nicht? Meinst Du nicht, dass Du nur für Dein Eigenwohl schreibst? Ist das - im Angesicht aller Aufgaben, welche vor uns stehen - nicht sehr egoistisch?".

Harry P... Schostakowtisch
Dies - gekoppelt mit Todesangst angesichts der Stalinzeit - überforderte Schostakowitsch monumental. Er kooperierte und versuchte - wie so oft in Diktaturen - seinen Widerstand verdeckt, verschlüsselt in seiner Musik auszudrücken. Diese war manchmal leicht doppeldeutig, manchmal verschwand sie direkt in der Schublade, um erst in den 90er-Jahren entdeckt zu werden! Zur gleichen Zeit kommt es zu Situationen wie in New York, in der er als Repräsentant seines Landes durch gezielte Reporterfragen gedemütigt wird, weil klar wird, dass er nicht frei reden kann.

Letztlich gelingt es dem Buch ganz gut, diese Situation darzulegen. Andererseits fehlen mir einige Sachen: Wo ist das Genie Schostakowitschs? Das wird im Prinzip überhaupt nicht erklärt oder beschrieben. Auch sind vor allem in der ersten Hälfte des Buches lange Passagen enthalten, die auf oberflächliche Weise (wie hier oben in der Rezension) das Sowjetrussland der 30er und 40er beschreiben. Aber ein Kratzen an der Oberfläche ist am Ende langweilig, da schon tausend Mal gehört. Warum flieht Schostakowitsch nicht? Dies wird in zwei Sätzen abgehandelt, wäre aber eine berechtigte Frage gewesen?
Julian Barnes (Link)

Ab der Mitte wird es ein wenig konkreter und damit besser. Doch insgesamt bleibt es auf sehr hoher Flughöhe. Ja, es ist ein Roman und damit kann man nicht dasselbe erwarten wie bei einer Biographie. Aber trotzdem könnte man meinen, hier wurde eine Kurzbiographie Schostakowitschs mit ein paar historischen Betrachtungen zu Russland und einigen (wohlbekannten) Anekdoten ausgeschmückt.

Für Einsteiger zum Thema Schostakowitsch ist das Buch okay, für Experten überflüssig. Literarische Glanzleistungen sehen anders aus, aber es passt ganz gut für ein Wochenende. Schade ist dann aber, dass es wenig referenzierte Musik von ihm im Buch zu entdecken gibt. Dies wäre etwas rettendes gewesen, nämlich der Anreiz für den Leser, sich dann weiterzubeschäftigen mit Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch.

Sonntag, 12. Februar 2017

Franz Werfel - Verdi

Manchmal hat die Sammelwut auch etwas Gutes. Einst im Rahmen der Erkundung der neuen Wohngegend in einem nicht eben gut sortierten Antiquariat für wenige Heller erstanden, verschwand das Buch "Verdi" schnell im Regal. Eigentlich sollte es was von Frank Wedekind sein (Lulu oder so), aber der Name Franz Werfel hatte solch' Ähnlichkeit, dass es mir gar nicht auffiel, dass ich da etwas ganz anderes in den Händen hielt. 

Franz Werfel (Quelle)
Die Pfennige, die den Eigentumsübergang von kapitalorientiertem Kleingeschäftsmann zu sammelorientiertem Kleinbürger besiegelten, waren - wie schon erwähnt - nicht dergleichen viele. Was eine Voraussetzung war, ja absolute Notwendigkeit darstellte, war doch das Thema "Verdi", damit verbunden "Oper" nicht unbedingt eines jener Gernbeackerten des Autors. Gleichermaßen führte das dazu, dass der Unwissende dies' Büchlein ins Archiv beförderte. 

Nun, Jahre später ist es also so gekommen, dass der Name "Werfel" für den Rezensierenden ganz unabhängig vom Vorhandensein eines Buches eine gewisse Bedeutung erlangt hat, wenn auch über Mahler'sche Umwege. Und die Erinnerung trog nicht: das Buch wurde bei einem Reassortieren des Bücherschrankes gefunden. Und nun MUSSTE es gelesen werden. Kann ja kein Zufall sein... (oder doch?)

Vorweg ist zu sagen, dass "Verdi" in den 20er Jahren eines der erfolgreichsten Bücher war, welches Werfel bis dahin veröffentlicht hatte. Es verursachte sogar - so die Behauptung - ein Wiedererinnern, ein Neukennenlernen des Komponisten Verdi - in Deutschland. Der Roman, für den Werfel jahrelang unter Aufbietung aller seiner Kräfte im Höllenloch Venedig wohnen und recherchieren musste, spielt ebenda im Jahre 1882.

Quelle
Um diese Zeit war Verdi 70 Jahre alt und genau die gleiche Anzahl Jahre zählte auch sein ewiger Konkurrent und der Welten Erneuerer der Musik im 19. Jahrhundert, der schon damals überall bewunderte Richard Wagner. Beide standen trotz Gleichaltrigkeit im Gegensatz zueinander: der Deutsche: Inbegriff der Romantik, des hohen Geistes in der Musik und die Selbstsicherheit in Person. Auf der anderen Seite Verdi: ehedem bewunderter Revolutionsdichter der Italiener in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein Bauernjunge, der sich hochgearbeitet hat und kurzzeitig mit Erfolgen wie Nabucco (siehe Video), Trovatore und Aida sogar als neue Garde der Opernmusik bezeichnet wurde, weil er die südländische leichte melodieorientierte Tradition würdig fortgesetzt hatte. Doch dann kam Wagners Volltreffer in den Zeitgeist der Romantik und auf einmal galt er als abgestanden: Rhythmik, Stimmungen, philosophischer Geist waren nun wichtiger.


Mit 60 schrieb er seine letzte Oper, diese nicht einmal sehr erfolgreich. Und nun, 10 Jahre später, trifft er Wagner zufällig in Venedig. Sie stehen sich kurz gegenüber und Verdi glaubt genau diese deutsche Selbstsicherheit zu erkennen, die er nicht verstehen kann. Ein Augenblick, der in ihm das Verlangen auslöst, doch noch einmal zu komponieren. Trotz aller bösen Gedanken, er sei zu alt, er sei nicht mehr auf der Höhe.


Was zeichnet nun den Roman aus? Es ist vor allem die Sprache und die Komposition. Nahezu perfekt beides. Die wortgewaltige, aber trotzdem leichte und nie übertrieben emotionale oder pathetische Sprache zeigen für mich unzweifelhaft die vollendete Synthese aus deutscher Geradlinigkeit, Romantik und italienischem Humanismus und Sinn für's Detail. Werfel beherrscht die Beschreibung der venezianischen Welt am Ende des 19. Jahrhunderts meisterhaft und schafft es vom Bild des zauberhaften Wasserstädtchens wegzukommen, indem er die Venedig zugeschriebenen Eigenschaften in eine Sprache der Nacht, ja des Sternenlichts hüllt. Genau dies bereitet auch den Boden für die Handvoll von Charakteren, mit denen er im Buch sein Panorama der zeitlichen Stadtbeschreibungen durch sonderhafte, aber niemals unrealistische oder unsympathische Menschen erbaut. Nun eben ganz menschliche Personen sind das! Es geht vom 100-jährigen Gockel, der Anerkennung erwartend durch die Stadt spaziert über den alten heißblütigen Revolutionsfreund Verdis zum als einziger Verdi erkennenden Operneinlasser. Man sieht kalte Opernariensängerinnen, sich betont neumodisch benehmende junge Schnösel. Aber auch arme Familien, deren wenig Glück Verdi erweicht, denen er aber trotzdem nicht helfen kann.

Ohne jetzt weiteres zum Inhalt zu sagen, sei noch erwähnt, dass der Roman ein historischer ist und damit (und auch laut Aussage Werfels) sorgfältig recherchiert sein sollte. Natürlich liegen die Ausschmückung mit Details immer in der Kunstfertigkeit des Autoren. Wohin sie auch gehören. Es kommt einzig und allein darauf an, die "Wahrheit" auszusprechen. Dies erscheint mir gelungen, auch wenn es natürlich DIE Wahrheit nicht gibt. Ein literarisches Meisterwerk und immer wieder faszinierend, was für Schätze manchmal jahrelang in der Nähe darauf warten, geborgen zu werden.