Samstag, 2. Januar 2016

Andrzej Bart - Die Fliegenfängerfabrik

1942 in einer polnischen Stadt, in der eines der zahlreichen Judengettos eingerichtet wurde. Der Mann, der zuständig ist für hunderttausende eingepferchte Juden tritt vor die versammelte Masse und sagt folgendes:

„Das Getto ist von einem schweren Schmerz getroffen. Man verlangt von ihm das Beste, was es besitzt – Kinder und alte Menschen. [...] Brüder und Schwestern, gebt sie mir! Väter und Mütter, gebt mir eure Kinder! [...] Ich muss diese schwere und blutige Operation durchführen, ich muss Glieder amputieren, um den Körper zu retten! [...] Legt eure Opfer in meine Hände, damit ich weitere Opfer verhindern kann, damit ich eine Gruppe von 100.000 Juden retten kann.“

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Diese unglaublichen Worte wurden von einem Juden gesprochen, von Chaim Rumkowski, dem Vorsteher des sogenannten Judenrates der Stadt. Und er stand hinter ihnen. Für ihn waren sie notwendig im Sinne seiner Überlebensstrategie "seiner" Juden. Das klingt erstmal absurd, aber der Hintergedanke war folgender: Die Deutschen beuteten zu Beginn des Gettos die Arbeitskraft der Juden aus. Wer arbeitete, der hatte eine Chance zu überleben. Wer nicht arbeitete, starb. Wenn man es nun schaffte, möglichst viele für die Deutschen kriegswichtige Betriebe und Industrien im Getto anzusiedeln, würden erstens mehr Juden überleben und zweitens - wichtiger! - die Industrien länger erhalten bleiben und somit wiederum mehr überleben. 

Diese Strategie sorgt dafür, dass das Getto bis ins Jahr 1944 und damit mehr als zwei Jahre länger als alle anderen Gettos bestehen bleibt. Dies allerdings unter immer schlimmeren Bedingungen, wie oben beschrieben.

(Übrigens erklärt sich dadurch der Titel des Romans, denn eine solche Fliegenfängerfabrik gab es tatsächlich)

Im Jahr 1944 wird das Getto "evakuiert", was nichts anderes bedeutet, als dass so gut wie alle Gettobewohner nach Auschwitz oder Kulmhof (beides KZs) gebracht werden. Auch Chaim Rumkowski ist dabei. Berichten zufolge wird er von den KZ-Insassen am Tag seiner Ankunft herumgeführt und danach ins Krematorium gestoßen, wo er bei lebendigem Leibe verbrennt.

Warum? Dieser Frage geht das Buch auf höchst originelle Art und Weise nach. In einem fiktiven Prozess mit Gott als Richter und historischen Figuren als Staatsanwalt, Verteidiger und Zeugen werden die Persönlichkeitszüge des Chaim Rumkowski von mehreren Seiten ergründet, teils über erdachte Episoden, in der Mehrzahl aber über historisch verbürgte Situationen und Aussagen. Wer war der Mann, der nach späteren Aussagen der Bewohner diktatorisch, herrisch und rechthaberisch über sie verfügte, welcher Paraden zu seinen Ehren abhielt und Briefmarken mit seinem Konterfei einführte? Der allerdings auch unter jeder Entscheidung, die das Leid vergrößerte, körperlich unheimlich litt und der vor dem Krieg ein Waisenhaus führte. Dieser Frage wird mithilfe der Gerichtskonstruktion nachgegangen.

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Dieses Buch ist für mich ein sehr gutes, da es eine Leichtigkeit im Lesen besitzt. Dies ist zum Einen auf die zurückhaltende, verbindliche sowie teils leicht ironische Sprache des Autors zurückzuführen, zum anderen funktioniert die Gerichtsverhandlung tatsächlich als erzählerische Klammer. Die Schwere des Sujets spiegelt sich nicht im Lesen wider, man liest sehr flüssig. Das Interesse des Lesers wird auch durch die mühelos gelungene Vermischung von Realität und fantastischen, fast schon ein wenig gespenstischen Stellen erreicht, welche allein schon durch das Auftreten lange toter Menschen - viele davon qualvoll ums Leben gekommen - erzeugt wird.

Alles in allem ein sehr gelungener Roman, der berührt und unterhält sowie bildet. Eine Kombination, die ich nur sehr unterstützen kann.