Freitag, 29. Dezember 2017

Lutz Kleveman - Lemberg

Das vorliegende Buch habe ich mit zwei Gefühlen beendet: Zufriedenheit als auch Schock. Ist es nicht erstaunlich, dass ein (nominal) Geschichtsbuch diese Reaktionen auslösen kann? Möglich, aber vielmehr spricht dies für die Qualität des Werkes. In "Lemberg" beschäftigt sich Kleveman mit der Geschichte der Stadt in der Nähe der ukrainisch-polnischen Grenze seit etwa 1900. Kurz zusammengefasst teilt Lemberg (heute Lviv) das Schicksal vieler anderer Städte in Mittel-/Osteuropa, welche ehemals quasi habsburgische Vielvölkerstädte bestehend aus Slawen, Deutschen und Juden waren: Breslau, Wilnius, Tschernowitz, Krakau, ... : es krachte immer mal, aber man lebte zusammen/nebeneinander. Die Habsburger hatten die ordnende Hand von oben. Durch den aufkommenden Nationalismus seit Beginn des Jahrhunderts bildeten sich hochexplosive Potentiale der Gewalt. Gleichzeitig griffen die mörderischen Diktaturen von Stalin und Hitler ein. Das alles zusammen zerstörte neben millionenfachem Leben so gut wie alles an Kultur und Charakter der alten Städte, so dass heute so gut wie nichts mehr davon übrig ist.

Eine derartige Komprimierung wird natürlich der Wirklichkeit nicht gerecht, denn eine Objektivierung des Geschehens ist der Definition nach zutiefst unmenschlich. Um sich also dem Thema tiefer (und damit menschlicher) zu widmen, sollte man nach dem vorliegenden Buch greifen. 

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Kurz ein paar allgemeine hinführende Gedanken, welche jedoch nicht unwichtig für das Verständnis sind: Kleveman bedient sich bei der Herangehensweise seines Buches einer sehr persönlichen: Er beschreibt die Evolution seines Erkenntnisprozesses, welcher in seinen mehrfachen Aufenthalten in Lemberg vonstatten ging. Dies strukturiert das Buch historisch, aber vor allen Dingen macht es das Lesen spannend. Man erfährt mit ihm immer neue Facetten, welche einen meist ähnlich bewegt zurücklassen wie den Autor selbst. Nach den einleitenden Kapiteln, welche schön das Stadtbild beschreiben, widmet sich der Autor dem pulsierenden Wissenschafts- und Kulturleben der Zwischenkriegszeit. Auch diese Kapitel sind anregend geschrieben. Gleichzeitig bekommt man interessante Einblicke und ungute Ahnungen bezüglich der Fragilität des Zusammenlebens zwischen Polen, Ukrainern und Juden. Polen und Ukrainer schauen sich stumm an, aber schon mit Messern zwischen den Zähnen. Die Juden hingegen leiden schon ein wenig unter dem polnischen Antisemitismus, aber lassen sich davon das Leben nicht vermiesen. 

Und nun kommen eigentlich nur noch immer herzzerreißendere Kapitel voll mit Leid und Schrecken für die Lemberger Bevölkerung. Zu Beginn der Krieges marschiert die Sowjetunion ein und liquidiert im Namen ihrer Staatsideologie das freigeistige Leben mit einem Schlag genau wie polnische und ukrainische Menschen, die sich nicht fügen wollen. Es kommt so weit, dass es für die betroffenen Lemberger vielversprechender aussieht, nach Deutschland zu fliehen oder die Wehrmacht herbeizusehnen. Als dies dann tatsächlich eintritt, wird aber alles nur viel schlimmer. Sofort beginnt die systematische Ausrottung von Menschen auch in Lemberg. 

Ab hier macht Kleveman einen starken Schwenk zum Mord an der jüdischen Bevölkerung und findet einige noch lebende ukrainische Zeitzeugen, mit denen er Interviews führt und in denen er das Thema der bereitwilligen ukrainischen Kollaboration (sowohl durch  militärische Verbände als auch Zivilbevölkerung) beim Massenmord an den Juden anspricht. Er trifft durchgehend auf Schweigen und Ablehnung. Mit allem Recht schockiert das eingedenk der Tatsache, dass am Ende des Holocaust in Lemberg und Galizien im Prinzip restlos alle Juden ermordet wurden. Folgt man der Art der Gespräche jedoch aufmerksam, so erschleicht einen durch die bohrende und ungläubige Art der Fragestellung durch Kleveman auch ein bekanntes Gefühl: das der heutigen deutschen Sichtweise auf die Zentralität bzw. Alleinstellung des Holocausts als Verbrechen des Krieges. In einem Gespräch behauptet Kleveman sogar, dass "Erfahrung und Aufarbeitung des Holocaust inzwischen Teil der europäischen Identität ist, so dass die Ukraine erst dann kulturell politisch zu Europa gehören kann, wenn das Land sich selbstkritisch seiner Geschichte zwischen 1941 und 1944 stellt". Sein Gegenüber spöttelt über diese Arroganz nur und verweist ihn auf ein dem Autor bisher unbekanntes Vernichtungslager der Wehrmacht mitten in Lemberg.

Lutz Kleveman (Link)
In diesem wurden sowjetische Kriegsgefangene sofort nach Beginn des Russlandfeldzugs systematisch in unvorstellbaren Zahlen ermordet: während im ganzen Krieg etwa 9000 Amerikaner und Briten in deutscher Gefangenschaft umgekommen sind, war dies allein in Lemberg - also in einer Stadt! - die Sterberate EINES Tages. Kleveman schluckt und muss eine wichtige Erkenntnis realisieren: das Morden des Hitlerregimes, der SS, der Wehrmacht und der entmenschlichten Deutschen bezog sich auf ALLE Menschen, die aus Nazisicht eben keine Menschen waren. Dazu gehören Juden, Russen, Behinderte, Alte, Schwache und Widerständler genau wie Deutsche.

Wohingegen die Erkenntnisse zum sehr verletzlichen Nationalgefühl der Ukrainer und der damit verbundenen Ablehnung der Beschäftigung mit ihrer eigenen verbrecherischen Vergangenheit in diesen Zeiten absolut richtig erscheinen, stimmt auch folgendes Zitat mit Bezug auf die (west-)deutsche Weigerung, sich mit den 3,5 Mio. toten sowjetischen Kriegsgefangenen überhaupt jemals zu beschäftigen: "Dessen eingedenk, mit welchem Recht kann man als Deutscher den Ukrainern eigentlich vorwerfen, ihre dunkle Vergangenheit von 1941 bis 1944 nicht schnell und kritisch genug aufzuarbeiten?"

Auch wenn 2015 der Bundespräsident Gauck in klaren Worten diese fehlende Seite der Aufarbeitung anerkannt hat, so gilt (aus meiner Sicht) dieses Mantra in Zusammenhang mit dem Holocaust doch unverändert: Man darf diesen nicht in Zusammenhang mit anderen Völkermorden setzen, er könnte seiner Singularität beraubt werden. Dazu passt dann aber auch folgendes Zitat aus dem Buch, als Kleveman ein altes fast unberührtes Labor eines Mediziners findet: "Läge das ehemalige Weigl-Labor irgendwo in Westeuropa, wäre hier längst ein Museum eingerichtet wurden, dass dem Besucher die Vergangenheit zugänglich machen aber auch das Spektrum emotionaler Reaktionen eingrenzen würde". Gut zusammengefasst wird hier die Dualität der positiven und negativen Seiten der Erinnerungskultur.

Lemberg (Link)
Zufriedenheit und Schock. Zufriedenheit über die neu erlangten Erkenntnisse, aber vor allem über den miterlebten Erkenntnisprozess des Autors: von verengt zu erweitert, von einfach zu komplex, von einer zu mehreren Wahrheiten. Schock aber über allem stehend ob der geschilderten Ereignisse und deren Bestialität.

Zuletzt sei noch gesagt, dass die gewonnenen Erkenntnisse und deren Auffächerung in verschiedene Sichtweisen auch das Verständnis der Konflikte innerhalb der Ukraine erleichtern. Aber das nur nebenbei (auch wenn es aktuell wohl fast der wichtigere Aspekt ist, da dies Aktuellgeschehen ist und das andere Vergangenheit). Ein extrem gut geschriebenes Buch, das den Geist anregt und erweitert.


Sonntag, 3. Dezember 2017

Sofi Oksanen - Als die Tauben verschwanden

Sofi Oksanen (Link)
Heute, am Tag des ersten Schnees dieses Winters, verschlägt es einen in estnische Gefilde der Vergangenheit. Sehr passend also. Estland um 1941 - 1943 herum: Die Sowjetunion hält das Land besetzt und jagt aufständische Rebellen in den verschneiten Wäldern. Die Rebellen wiederum, aber auch viele der passiven Esten, richten ihre Hoffnungen wiederum ganz auf Nazideutschland. Bald würde die Wehrmacht einmarschieren und den Esten gegen die russischen Besatzer beistehen. Dass dafür Juden drauf gehen werden, nun gut, das muss dann wohl so sein. Es gab auch damals schon sowieso nicht viele davon in Estland. 

In diesen paar Sätzen liegt schon der spannende (und weithin nicht bekannte) Hintergrund, vor dem sich die Geschichte abspielt. Eine Dreiecksgeschichte, welche alle Facetten der möglichen Handlungsoptionen damals abbildet, ohne zu holzschnittartig zu wirken. Roland, der Rebell, Edgar sein opportunistischer Vetter und Juudit, Edgars hin- und hergerissene Frau. 

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Man erfährt viele interessante Einzelheiten der damaligen Zeit und bekommt ein sehr unterschiedliches Erzähltempo angeboten: mal sehr detailliert, nur um dann sprunghaft wichtige Informationen in kurzen Sätzen zu erfahren. Aber das ist interessant so, es hält die Spannung aufrecht. Zudem springt die Zeitebene zwischen der damaligen Zeit und etwa 20 Jahre später stattfindenden Ereignissen hin und her. Auch das ist ein dramaturgisch gelungener Kniff, denn auch die Veränderungen der Hauptpersonen sind so, dass man dran bleibt. Man will wissen, was passiert ist.


Prinzipiell ist das Buch recht stringent mit einfachen Sätzen geschrieben. Aber das ist nicht der Grund, warum bei mir eine gewisse Leere übrig bleibt. Es liegt vermutlich daran, dass das Hauptaugenmerk auf den Personen liegt, welche einem nicht unbedingt so sympathisch sind. Die Figur des Rolands hat das Potential zum Helden, ihr wird jedoch deutlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt als der des Edgars oder Juudit. Und von einem Happyend kann man bei "Als die Tauben verschwanden" ganz gewiss nicht sprechen. Insofern ein recht trostloses Buch, aber so ist die Realität ja auch hin und wieder. Trotz allem also ein positiv zu sehendes Buch