Dienstag, 12. Juli 2016

Hanna Krall - Dem Herrgott zuvorkommen

Ein "schmales Bändlein" nennt man sowas wohl. Hat das vorliegende Werk doch lediglich knapp 140 Seiten. In dieser (quantitativ sicherlich korrekten) Bezeichnung schwingt aber immer auch eine qualitative Einordnung mit: Lese: Selbst wenn der Inhalt Gefallen findet, so ist es doch nicht möglich, hier mehr als ein "ganz gut" als Wertung zu vergeben, da die "Substanz" (die dem Sujet angemessene Schwere) fehlt.

Quelle
Trivial, dass das in seiner Absolutheit Unsinn ist. Wichtiger als rein äußerliche Maßstäbe sind formale, strukturelle und stilistische Gegebenheiten. Auch eine schriftstellerische Glaubwürdigkeit kann positiv wirken. Betrachten wir also die genannten Punkte.

Es geht um den Warschauer Gettoaufstand 1943. In diesem lehnte sich eine jüdische Gruppe von Gettobewohnern militärisch gegen die deutsche Besatzung und die täglichen zehntausendfachen Verladungen der Bevölkerung in die Konzentrationslager des polnischen Umlandes auf. Nach einer kurzen Anfangszeit der Erfolge, welche hauptsächlich dem Überraschungsaspekt des Widerstandes geschuldet war, wurde der Aufstand nach einem Monat durch Zerstörung des Gettos niedergeschlagen. (Ein Jahr später zerstörten die Deutschen in Reaktion auf den Warschauer Aufstand die gesamte Stadt bis auf die Grundmauern) 

Mittelpunkt des Buches ist einer der wenigen Überlebenden des Gettoaufstandes, welcher damals auch gleichzeitig Kommandeur der Kämpfer war: Marek Edelman. Etwa 35 Jahre später werden mithilfe seiner Erinnerungen verschiedene Aspekte des Aufstandes beleuchtet.  

Quelle
Das Buch konzentriert sich rein auf die meist anekdotischen Erzählungen und Einordnungen Edelmans. Diese werden im Rahmen eines losen Interviews von Hanna Krall und Edelman niedergeschrieben und wechseln sich mit Gedanken von Edelman zu seiner Nachkriegskarriere als Herzchirurg ab. Durch diese Art von Montage, welche Vergleiche zwischen Entscheidungen als Kommandant und Chirurg erlaubt, kann man einige charakterliche Aspekte von Edelman äußerst deutlich erkennen: Sein unerschütterlicher Realismus, seine Ehrlichkeit und seine Klarheit der Haltung bzw. seiner Überzeugungen. In seinen Äußerungen liegen gleichzeitig Abgeklärtheit als auch Nachdenklichkeit. Und genau das macht diese Person als auch die Äußerungen selber so interessant. Denn man bekommt einen Blick auf das Geschehen präsentiert, welcher abseits (bzw. neben) der reinen Schilderung von Elend und Verderben funktioniert und damit ein neues Sichtfeld eröffnet.

Eine mehrdimensionale Schilderung des Geschehens ist für das Erinnern und Verinnerlichen jeglicher Geschehen eminent wichtig! Durch alltägliche Geschehnisse, kleine Geschichten und Nebensächlichkeiten rückt die Schilderung nämlich sehr viel näher an das eigene Leben heran, womit wiederum die "Glaubwürdigkeit" steigt. Man kann sich sehr viel besser vorstellen, dass dies eben doch auch einem selbst passieren könnte. Die ungreifbare "historische Singularität" wird zu etwas schockierend Greifbarem.

Hanna Krall (Quelle)
Natürlich existieren auch die moralisch unmöglichen Entscheidungen, die in einem Ausnahmezustand wie diesem getroffen werden müssen. Opfere ich Leben, um andere Leben zu retten? Wenn ja, ab wann? Ab wie viel Risiko? Dies sind Fragen, welche auch ein Herzchirurg zu Angesicht bekommt, womit die Gegenüberstellung einen interessanten Sinn erzeugt. Edelman vergißt auch nicht, den militärisch eigentlich komplett fehlgeschlagenen und sinnlosen Aufstand richtig einzuordnen. Nämlich als eine rein menschliche Notwendigkeit ("Lieber mit der Waffe in der Hand als in einem in Brand gesteckten Keller oder an Hunger sterben"). Eine zynische Überlegung ist, ob der Aufstand nicht viel mehr Leben gekostet hat als wenn es diesen nicht gegeben hätte. Hätten die Deutschen die Stadt dann genauso zerstört? Interessante Überlegungen, welche wieder offenbaren, wie auch menschlich verständliche "gute" Entscheidungen nicht immer das Gute erzeugen, sondern vielleicht schlichtweg das Gegenteil.

Hanna Krall selber ist die Zuhörerin, lenkt das Gespräch aber auch sanft in die von ihr gewünschte Richtung. Sie wirkt eigenständig und mündig ohne dabei die Macht über die Konversation zu übernehmen. Diese eher distanzierte aber klare Herangehensweise steht dem Buch ausgezeichnet, denn sie passt zur Erzählweise Edelmans und lässt den Inhalt wirken, ohne eine emotionale Überladung erzeugen. Erstens ist diese hier sicherlich nicht nötig, zweitens verstellt sie manchmal den differenzierten Zugang zum Thema. Nach der Lektüre dieses Buches habe ich das Gefühl, genau diesen immer mehr zu bekommen. Ganz kann man das Puzzle nie zusammensetzen, aber versuchen sollte man es schon.