Sonntag, 19. März 2017

Julian Barnes - Der Lärm der Zeit

Merkwürdig hin- und hergerissen ist meine Meinung zum vorliegenden Buch. Schnell runterzulesen war es. Und irgendwie trifft es das auch. Eher unmerkwürdig als vielmehr sehr konkret hin- und hergerissen war auch das Subjekt, um das es hier geht: Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch.

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Mutmaßlich der berühmteste russische Musiker des 20. Jahrhunderts, wurde er eben genau in dieses sehr bewegte Jahrhundert reingeboren (1906). Und so durfte und musste er gewissermaßen an vorderster Front alle atemberaubenden Entwicklungen, die da in Russland und Europa stattfanden, mitmachen.

Und - dumm - nichts lag ihm eigentlich ferner. "Mitja" war ein Mensch, der nicht da vorne stehen wollte. Vielmehr würde er lieber seinen Ausdruck in Musik finden wollen und diese für sich sprechen lassen. Es ist nicht so, dass er zurückgezogen leben will, wie das Klischee es bei solchen Künstlern nicht selten mal vorgibt. Aber er würde gerne ohne Schwierigkeiten leben. Doch das war in diesen Jahren ganz einfach zu viel verlangt.

Schostakowitsch schreibt, wird zum ersten Mal erfolgreich. Aber unglücklicherweise schreibt er "formalistisch". Ein Wort, welches heute kaum noch jemand kennt. Geprägt von den staatlichen Organen im Stalinrussland, bezeichnet es den angeblichen Hang von Künstlern, am Volk vorbeizuschreiben. Viel schlimmer: für die degenerierte Künstlerelite - nur um ihr zu gefallen. Für die artistische Bourgeoisie also. Schwer verständliche Kunst, meist mit interpretierbarem oder schlimmer - traurigem - Ende, genau dies durfte es nicht geben. Beim Aufbau des Sozialismus hatten alle an einem Strang zu ziehen, auch die Künstler. Und das ging nur, wenn Optimismus verbreitet wurde... Ein in mehrfacher Hinsicht perfider Gedankengang: dem "einfachen" Mensch wird nicht zugetraut, die kleinste Abweichung von Volksweisen zu erkennen und zu schätzen. Und man konnte aus staatlicher Sicht den Künstler an der kurzen Leine halten und für die eigenen Zwecke einsetzen, alles abgesichert durch die Fragen "Aber Genosse, willst Du denn nicht auch, dass es den Leuten besser geht? Warum hilfst Du ihnen nicht? Meinst Du nicht, dass Du nur für Dein Eigenwohl schreibst? Ist das - im Angesicht aller Aufgaben, welche vor uns stehen - nicht sehr egoistisch?".

Harry P... Schostakowtisch
Dies - gekoppelt mit Todesangst angesichts der Stalinzeit - überforderte Schostakowitsch monumental. Er kooperierte und versuchte - wie so oft in Diktaturen - seinen Widerstand verdeckt, verschlüsselt in seiner Musik auszudrücken. Diese war manchmal leicht doppeldeutig, manchmal verschwand sie direkt in der Schublade, um erst in den 90er-Jahren entdeckt zu werden! Zur gleichen Zeit kommt es zu Situationen wie in New York, in der er als Repräsentant seines Landes durch gezielte Reporterfragen gedemütigt wird, weil klar wird, dass er nicht frei reden kann.

Letztlich gelingt es dem Buch ganz gut, diese Situation darzulegen. Andererseits fehlen mir einige Sachen: Wo ist das Genie Schostakowitschs? Das wird im Prinzip überhaupt nicht erklärt oder beschrieben. Auch sind vor allem in der ersten Hälfte des Buches lange Passagen enthalten, die auf oberflächliche Weise (wie hier oben in der Rezension) das Sowjetrussland der 30er und 40er beschreiben. Aber ein Kratzen an der Oberfläche ist am Ende langweilig, da schon tausend Mal gehört. Warum flieht Schostakowitsch nicht? Dies wird in zwei Sätzen abgehandelt, wäre aber eine berechtigte Frage gewesen?
Julian Barnes (Link)

Ab der Mitte wird es ein wenig konkreter und damit besser. Doch insgesamt bleibt es auf sehr hoher Flughöhe. Ja, es ist ein Roman und damit kann man nicht dasselbe erwarten wie bei einer Biographie. Aber trotzdem könnte man meinen, hier wurde eine Kurzbiographie Schostakowitschs mit ein paar historischen Betrachtungen zu Russland und einigen (wohlbekannten) Anekdoten ausgeschmückt.

Für Einsteiger zum Thema Schostakowitsch ist das Buch okay, für Experten überflüssig. Literarische Glanzleistungen sehen anders aus, aber es passt ganz gut für ein Wochenende. Schade ist dann aber, dass es wenig referenzierte Musik von ihm im Buch zu entdecken gibt. Dies wäre etwas rettendes gewesen, nämlich der Anreiz für den Leser, sich dann weiterzubeschäftigen mit Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch.