Donnerstag, 31. März 2016

Szczepan Twardoch - Drach

Es gibt immer mal Bücher, die einen am Anfang irritieren. Was will der Autor? Warum schreibt er so, wie er schreibt? Wo ist die Story? "Drach" gehört dazu. Selten ist es aber, dass man dies' Buch dann nicht zur Seite legt, da die Eindrücke vom Anfang sich fortsetzen. "Drach" ist so ein Fall. 

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Wer "Morphin" von Twardoch mit Genuß gelesen hat (ich), wird mit dem Nachfolger gleichermaßen enttäuscht und bestätigt

Enttäuscht, weil wir es hier nicht mit einem Story-getriebenen Buch zu tun haben. Nein, es handelt sich vielmehr um ein oberschlesisches Familienpanorama über mehr als 100 Jahre. Twardoch kommt aus diesem Teil von Polen, der früher auch deutsch war. Er wohnt immer noch dort und hat nach eigener Aussage die Geschichten, welche sich in der Familie abgespielt und über die Jahre gesammelt haben, zu Papier gebracht. 

Bestätigt, weil die expressionistische Erzählweise aus einfachen Sätzen, die von Liebe, Verderben, Aufstieg und Fall handeln, aus wiederkehrenden Motiven und mystischen Elementen immer noch vorhanden ist. Ein Genuß.

Man benötigt aber wie eingangs vermerkt ein Weilchen um "reinzukommen". Es werden massig Figuren eingebracht und teilweise nahe am Selbstzweck vorbeischrammende Detailbeschreibungen geliefert, von denen man erstmal nur die Erkenntnis bekommt, dass der Autor ausgiebig recherchiert hat.

Aber irgendwann macht es Klick, vielmehr Boooom und man liebt es, so wie es ist. Die sehr unterschiedlichen Erzählrhythmen aus langsamen Abschnitten, die sich wie die wohligen Familiengeschichten von Großvater am Kamin anfühlen und dann perfekt geschriebenen explosiven Kapiteln wie die Erzählungen aus dem Grabenalltag des 1. Weltkrieges fesseln einen. Die Charaktere entfalten Wucht, sie kriechen in einen hinein. Dafür also die Kapitel des Anfangs, nämlich für das Setup der Figuren. Dann die unbewegten in gnadenloser Sprache verfassten Beschreibungen von tragischen Schicksalen... Sie rühren einen zu Tränen, ziehen einen herunter. Zusätzlich das Wissen, dass diese Schicksale möglicherweise real sind.

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Ich habe noch kein konkretes Wort über den Inhalt geschrieben, das ist aber auch nicht wirklich notwendig. Nur soviel: Es gibt zwei Hauptfiguren, beide erleiden schreckliche Schicksale. Die erste Figur, Josef, ist schlicht und einfach perfekt angelegt. Sie steht erzählerisch nicht wirklich im Mittelpunkt, ist aber eindeutig das Zentrum des Buches. Nikodem, die zweite Figur, lebt im Hier und Jetzt und ist sehr lange ein charakterliches Rätsel ohne viel Ausstrahlung. Während Josef eher existentiell ist, da er in einer sehr bewegten und gefährlichen Zeit lebt, ist Nikodem fast schon langweilig belanglos. Substanz gegen Hülle. Auch das ist eine Aussage Twardoch's, wenn man die Zeiten "früher" und "heute" vergleicht - über die sich freilich vortrefflich streiten lässt.

Für mich ein absolutes Must-Have-Buch, wenn der Stil von Twardoch gefällt. Außerdem gewinnt man soviel Zufriedenheit daraus, wenn man ein Buch "versteht", es sich dem Leser also öffnet. Und nun nochmal "Morphin"!