Samstag, 13. Juli 2013

Von Prag nach Sibirien

Gaaanz frühes Foto. (Quelle)
Es bewahrheitet sich mal wieder die Erkenntnis, dass Kunst, egal ob Literatur, Musik oder Malerei oder sonst etwas, fast immer eine ganz neue Bedeutung bekommt, sobald sie mit einem persönlichen Bezug "aufgeladen" wird. Vormals gute wird zu wichtiger und sehr gute zu genialer Kunst. Zumindest für einen selbst. Andere werden das schwer verstehen, weil sie nicht denselben Bezug haben. Vielleicht aber einen eigenen. Das ist - nebenbei gesagt - das Tolle an ihr und gleichzeitig das schwierige, das diffizile.

Gustav Meyrinks "Der Golem" basiert lose auf der Sage aus Prag, in welcher ein jüdischer Rabbi aus Lehm eine lebende Masse zur Hilfe der Gemeinde formte. Der Golem war allerdings bald widerspenstig, richtete Verwüstung an und musste vom Rabbi das Lebenslicht wieder entzogen bekommen. Die Lehmmasse wird noch heute in einer Synagoge in Prag vermutet. Meyrink baut um diesen Mythos eine Geschichte eines mysteriösen, des Gedächtnisses verlustig gegangenen Gemmenschneider mit dem fantastischen Namen "Athanasius Pernath" auf. Dieser lebt im jüdischen Ghetto von Prag um etwa 1880 rum. Erzählweise und auftretende Figuren, die Handlung - alles ist nebulös, mysteriös, kapriziös. Immer schwebt der eigenwillige Charme der jüdischen Mythologie (vgl. Kabbala) im Raum und man bekommt den Eindruck einer abgetrennten Welt in der Welt. Meyrinks Erstling bewegt sich sprachlich und atmosphärisch in den Fußstapfen von Edgar Allan Poe, nur halt im Setting von Prag.

Ist das der Golem? Hm... (Quelle)
Was wir also hier haben, ist eine mysteriöse Geschichte mit Mindfuck-Elementen, mit eleganter Sprache und düsterer Atmosphäre. Das allein macht es zu einem sehr guten Buch. Die abermalige Referenzierung von bekannten Orten aus Prag macht es für mich dann zu einem genialen. Denn wie bei Clemens Fischers Beschreibungen von Leipziger Ortschaften entsteht dadurch ein tieferer Bezug. Bei allem Anregen von Phantasie -  wenn man von den Plätzen und Orten des Buches ein genaues Bild im Kopf hat, ist das einfach wunderbar.

Einen anderen persönlichen Bezug hat Alexander Issajewitsch Solschenizyns "Ein Tag im Leben des Iwan Dennisowitsch". Iwan Dennisowitsch Schuchow (ich liebe diese russischen Namen!) ist Sträfling in einem russischen Arbeitslager in Sibirien ein paar Jahre nach dem 2. Weltkrieg. Er hat für angebliche Spionage für die Deutschen 10 Jahre in diesem Lager aufgebrummt bekommen. Wie zu erwarten, ist die Arbeit knüppelhart, das Wetter unmenschlich und die Aufseher unwirtlich (oder andersrum?). Wie der Name schon sagt, wird ein Tag in diesem Lager aus Sicht von Schuchow beschrieben. Je mehr ich las, desto mehr projizierte ich Schuchow auf jemanden, der so etwas wirklich unter ähnlichen Umständen erlebt hat.
Alexander Issajewtisch in seiner
Sträflingszeit. (Quelle)

Das Buch ist in seinem Kern ähnlich zu "Die Wand", in welcher ja auch "nur" das Leben der Hauptfigur beschrieben wird (bis auf eine Wendung am Schluß). Die tiefe Identifikation mit Schuchow lässt einen aber immer weiterlesen, gerade auch, weil im ganzen Buch keine versteckten Seitenhiebe, keine Wertungen, rein gar nichts an politischer Botschaft vorhanden ist. Schuchow hat für so etwas nach Jahren im Lager keine Zeit und keinen Nerv, andere Dinge sind wichtig. Was einen fasziniert, ist der Pragmatismus der Leute, der Zusammenhalt, der Lebenswille. Vor allem bei Schuchow erkennt man auch unglaubliche Klugheit, in allem, was er macht. Eigenschaften und Umstände, die wohl jeder gerne hätte.

Schwarz und weiß, endlich rot! (Quelle)
So ist es dann auch folgerichtig, dass man das Buch nach dem Auslesen mit einem guten Gefühl weglegt. Bizarr, denn trotz des gut verlaufenen Tags bestehend aus 12 Stunden Knochenarbeit, Haferbreimahlzeiten, minus 30 Grad Kälte und Wachmannschaftsschikanen, hat ja Schuchow immer noch mehrere Jahre vor sich. Auch danach wird es für ihn schwierig, wieder ins Leben zurückzufinden. Und eine nach der Freilassung sich andeutende Verbannung verkompliziert das ganze zusätzlich.



Zwei mal die absolute Höchstwertung - hätte ich so etwas. Deswegen bleibt mir nur, diesen ganzen Absatz rot zu färben.  

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen