Sonntag, 9. Juli 2017

Olga Grjasnowa - Der Russe ist einer, der Birken liebt

Eine der beliebtesten Floskeln in der Schulzeit ist ja jene, nach der einen "das gelesene Buch zum Nachdenken angeregt hat". Üblicherweise soll das ein Zeichen dafür sein, dass das Buch gut, weil anspruchsvoll und bereichernd war. Im vorliegenden Fall kann ich auf jeden Fall sagen, dass mein Nachdenken durch die Lektüre angeregt wurde. Was ich nicht sagen kann, ob das ein gutes Zeichen ist.

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Nun, bleiben wir erstmal bei den harten Fakten. Durchgelesen wurden die knapp 280 Seiten in einem Abend und einem folgenden Morgen. Was heißt das? Es ist recht lesbar geschrieben, der Stil ist flott und erfrischend. Die Geschichte, die erzählt wird, handelt von Mascha, einer jungen aserbaidschanisch-jüdischen Frau, die in Frankfurt äußerst kosmopolitisch lebt. Sie hat libanesische Geliebte, türkische Schwulenfreunde und zu allem Überfluss auch noch einen ostdeutschen Freund. Gipfel der Exotik! Allen ist jedenfalls gemeinsam, dass sie intellektuell sind und auch halbwegs beruflich/studentisch erfolgreich sind. Man begleitet das äußerst sprunghafte Leben von Mascha, die sehr früh im Roman verkraften muss, dass ihr Freund durch eine nicht mehr beherrschbare Sportverletzung stirbt. Sowieso schon ausgestattet mit dem Päckchen ihrer Herkunft und den traumatischen Erfahrungen aus dem aserbaidschanisch-armenischen Bürgerkrieg baut ihr psychischer Zustand immer mehr ab. Im zweiten Teil des Buches entschließt sie sich, nach Israel zu fliehen. Dort zerfasert ihr Leben allerdings nur weiter und am Ende steht sie ziel- und richtungslos in der Sinai-Wüste.

Ich versuche systematisch vorzugehen, da ich mir meiner Meinung zum Buch noch immer nicht sicher bin. Positiv ist die Sprache, der Schreibstil im Buch. Grjasnowa kann sich sehr reduziert ausdrücken und damit doch einiges aussagen. Teilweise sind wirklich sehr schöne poetische Sätze zu finden, über deren Schönheit man sich erst nach einer Weile klar wird.

"Ich spürte seinen warmen Atem, der nach Mandeln roch, und wenn Vater vorher getrunken hatte, brachte er mich ins Bett, ließ mich das Nachthemd überziehen und gab mir einen Kuss, seine Bartstoppeln kratzten an meiner Wange, und er strich über mein Haar. Dann legte er seine Hand genauso zärtlich an den Heizkörper wie zuvor auf meinen Kopf und ging aus dem Zimmer."

Vorteilhaft ist auch, dass es gelungen ist, die Handlung, die einige Wendungen und viele Personen hat, in diese 280 Seiten zu bekommen. Man hätte sicher auch sehr viel mehr schreiben können. Interessant ist natürlich auch der Einblick ins gebildete "Milieu" bzw. in die gebildete junge Generation von Einwandererkindern. 

Olga Grjasnowa (Link)
Was mich an dem Buch stört und mir teilweise das Lesen verleiden konnte, war folgendes: Vereinfacht gesagt ist Mascha immer Opfer und selbst wenn sie Täterin ist, muss man zwischen den Zeilen lesen, dass sie nur deswegen "böse" wurde, weil sie traumatisiert von dieser Welt ist. Oft wird diese Konstruktion durch eine gewisse Ironie in Maschas Worten abgefedert. Sie ist sich in gewissen Momenten dieses Faktes also bewusst. Und ja, es gibt Leben, die sind sehr opferreich. Nun kommt aber noch dazu, dass vom Gefühl her ausnahmslos jeder Mann in dem Buch (bis auf ihre zwei ausländischen Freunde) ein Macho, fremdenfeindlich, berechnend-ausnutzend, kleingeistig, debil oder schmierig ist. Und auch hier: es gibt genug Männer, die so sind. Sogar welche, die alle Eigenschaften vereinen. Aber das Problem für mich ist ein praktisches: Dadurch, dass man weiß, dass Mascha immer Opfer ist und dass der Täter immer ein Mann ist, wird für das Lesen teilweise sehr viel Durchhaltevermögen erfordert. Nicht nur, dass man sie manchmal schütteln will um ihr zuzuschreien: "Mach die Augen auf! Reiß dich zusammen und denk mal nach! Gefühle sind nicht alles!", nein, es wird auch langweilig, weil man vorher weiß, was passieren wird. Ich weiß, man kann das alles aufgrund der posttraumatischen Belastungsstörung, die man selber nicht hat, nicht beurteilen. Und der Einblick in genau jene ist wertvoll, aber die platten Figurenbeschreibungen, immer wenn es ein Mann ist: das ist für mich ein handwerklicher literarischer Fehler, der dem Buch schadet. In diesen Momenten lässt er es billig und konstruiert wirken. Nur dadurch, dass diese Momente aufgrund der flotten Schreibweise und dem inhaltlichen Stakkato recht schnell vorüber gehen, habe ich dieses Buch nicht weggelegt. Man will schon wissen, wie es mit Mascha weitergeht, ohne Frage, das Buch ist spannend geschrieben. Glücklicherweise nimmt es im zweiten Teil in Israel den Fokus davon weg und hin zum Nahostkonflikt. Die Beschreibung dessen ist auch hier wieder interessant und knapp, aber doch wirklich hocheffizient gehalten. Mit wenigen Sätzen kann Grjasnowa tatsächlich viele Facetten dieser stetigen Problemlage beschreiben. Hut ab!

Mir ist noch immer nicht klar, was meine Meinung ist bzw. ich muss wohl einsehen, dass beides stimmt: das Buch ist gut und schlecht. Es ist hell und dunkel. Was allerdings ein gutes Zeichen ist: ich werde auf jeden Fall schauen, ob ich ein anderes Buch von ihr finden werde.

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