Samstag, 22. April 2017

Milan Kundera

Was ist der Zauber des Milan Kundera? Was fasziniert mich an ihm? Bei wenigen habe ich solche Schwierigkeiten, dies klar herauszuarbeiten. Ein mittlerweile 88 Jahre alter Mähre aus Brünn, lebt er schon Jahrzehnte nicht mehr in seiner Heimat. Ende der 70er-Jahre wanderte er aus der Tschechoslowakei nach Frankreich aus. Die Bücher, welche ich von ihm gelesen habe, drehen sich alle im Prinzip um zwei Subjekte: das Persönliche im Rahmen des Politischen. Genauer gesagt: das Zwischenmenschliche (und allzu menschliche) in der Situation des beginnenden und bestimmenden Sozialismus in der Tschechoslowakei. Er schreibt darüber, wie sich die Beziehungen zwischen Menschen in dieser historischen Situation verhalten. 
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So weit, so gewöhnlich. Um eine Faszination zu erläutern, bedarf es natürlich mehr. Wobei man natürlich immer auch die Frage stellen kann, ob es überhaupt möglich ist, etwas so subjektives wie Faszination objektiv zu erläutern. Nun, ich bin kein Anhänger des Gedankens, dass man Erklärungen zu unterlassen habe, weil man sonst Gefahr läuft, genau diesen Zauber zu zerstören. Bei diesen hoch persönlichen Zugetanheiten gibt es immer eine Geheimzutat, die kein Außenstehender verstehen kann. Und meistens man selbst eben auch nicht. Keine Gefahr also...

Ich würde Milan Kundera von seinem Stil ein wenig mit Javier Marias vergleichen: sehr transparente Einsichten in die Intentionen der Handelnden, stilmäßig eher knapp und klar, trotzdem sind die Sätze von Wärme getragen. Und wo Marias sich eher dem Mystery-Aspekt verschreibt, sieht sich Kundera oft als absolut auktorialer Erzähler mit der Macht, seine Figuren schicksalsträchtig hin und herzuschubsen. Aber - und das ist wichtig: stets mit einem gutmütigen Schmunzeln. Man stellt sich einen entspannten erfahrenen Erzähler vor, der auf seine Figuren blickt, sie liebt und gerade deswegen nie verurteilt. Er will ihre Intentionen herausstellen, egal, wo sie herkommen. Gerne erzählt er auch eine Anekdote, breitet seine (stets originellen) philosophischen Ansichten aus und manchmal wird er tatsächlich ein wenig böse, aber nie lang. Und wenn es ganz schlimm um seine Figuren steht, leidet er mit und erzeugt dieses Leid auch bei seinen Lesern. Auch das jedoch eher selten, Kundera weiß um die Vergänglichkeit von extremen Emotionen. Kurz: Kundera ist dein lebenserfahrener Lieblingsopa, der eine spannende Geschichte erzählt.

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Am besten gefallen mir seine Frühwerke, quasi bis zu seiner Emigration. Darauf basiert meine Einschätzung und Beschreibung seiner Schreibweise. Neuere Bücher habe ich bis auf "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" noch nicht gelesen. Dieses wohl bekannteste Buch von ihm hat mir nicht so gut gefallen wie seine frühen Werke. Nichtsdestotrotz fasst es die o.g. Punkte sehr gut zusammen. Es hat meines Erachtens jedoch einen Nachteil: es legt mehr Wert auf das Erzählpanorama, also auf das Ausbreiten und Ausgestalten der eher spärlichen Geschichte. Die Kritiker liebten es natürlich und es wurde verfilmt. Aber - wie schon gesagt - die frühen Geschichten sind jene, mit denen ich mich eher identifizieren kann.

Literaturkritiker teilen sein Werk in drei Teile ein: die oben erwähnten Frühwerke vor der Emigration, die Mittelperiode (mit der unerträglichen Leichtigkeit des Seins) und seine Spätwerke. Wollen wir mal sehen, was diese bieten. Empfehlen kann ich die Frühwerke, sie sind wundervoll komponiert.

Sonntag, 19. März 2017

Julian Barnes - Der Lärm der Zeit

Merkwürdig hin- und hergerissen ist meine Meinung zum vorliegenden Buch. Schnell runterzulesen war es. Und irgendwie trifft es das auch. Eher unmerkwürdig als vielmehr sehr konkret hin- und hergerissen war auch das Subjekt, um das es hier geht: Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch.

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Mutmaßlich der berühmteste russische Musiker des 20. Jahrhunderts, wurde er eben genau in dieses sehr bewegte Jahrhundert reingeboren (1906). Und so durfte und musste er gewissermaßen an vorderster Front alle atemberaubenden Entwicklungen, die da in Russland und Europa stattfanden, mitmachen.

Und - dumm - nichts lag ihm eigentlich ferner. "Mitja" war ein Mensch, der nicht da vorne stehen wollte. Vielmehr würde er lieber seinen Ausdruck in Musik finden wollen und diese für sich sprechen lassen. Es ist nicht so, dass er zurückgezogen leben will, wie das Klischee es bei solchen Künstlern nicht selten mal vorgibt. Aber er würde gerne ohne Schwierigkeiten leben. Doch das war in diesen Jahren ganz einfach zu viel verlangt.

Schostakowitsch schreibt, wird zum ersten Mal erfolgreich. Aber unglücklicherweise schreibt er "formalistisch". Ein Wort, welches heute kaum noch jemand kennt. Geprägt von den staatlichen Organen im Stalinrussland, bezeichnet es den angeblichen Hang von Künstlern, am Volk vorbeizuschreiben. Viel schlimmer: für die degenerierte Künstlerelite - nur um ihr zu gefallen. Für die artistische Bourgeoisie also. Schwer verständliche Kunst, meist mit interpretierbarem oder schlimmer - traurigem - Ende, genau dies durfte es nicht geben. Beim Aufbau des Sozialismus hatten alle an einem Strang zu ziehen, auch die Künstler. Und das ging nur, wenn Optimismus verbreitet wurde... Ein in mehrfacher Hinsicht perfider Gedankengang: dem "einfachen" Mensch wird nicht zugetraut, die kleinste Abweichung von Volksweisen zu erkennen und zu schätzen. Und man konnte aus staatlicher Sicht den Künstler an der kurzen Leine halten und für die eigenen Zwecke einsetzen, alles abgesichert durch die Fragen "Aber Genosse, willst Du denn nicht auch, dass es den Leuten besser geht? Warum hilfst Du ihnen nicht? Meinst Du nicht, dass Du nur für Dein Eigenwohl schreibst? Ist das - im Angesicht aller Aufgaben, welche vor uns stehen - nicht sehr egoistisch?".

Harry P... Schostakowtisch
Dies - gekoppelt mit Todesangst angesichts der Stalinzeit - überforderte Schostakowitsch monumental. Er kooperierte und versuchte - wie so oft in Diktaturen - seinen Widerstand verdeckt, verschlüsselt in seiner Musik auszudrücken. Diese war manchmal leicht doppeldeutig, manchmal verschwand sie direkt in der Schublade, um erst in den 90er-Jahren entdeckt zu werden! Zur gleichen Zeit kommt es zu Situationen wie in New York, in der er als Repräsentant seines Landes durch gezielte Reporterfragen gedemütigt wird, weil klar wird, dass er nicht frei reden kann.

Letztlich gelingt es dem Buch ganz gut, diese Situation darzulegen. Andererseits fehlen mir einige Sachen: Wo ist das Genie Schostakowitschs? Das wird im Prinzip überhaupt nicht erklärt oder beschrieben. Auch sind vor allem in der ersten Hälfte des Buches lange Passagen enthalten, die auf oberflächliche Weise (wie hier oben in der Rezension) das Sowjetrussland der 30er und 40er beschreiben. Aber ein Kratzen an der Oberfläche ist am Ende langweilig, da schon tausend Mal gehört. Warum flieht Schostakowitsch nicht? Dies wird in zwei Sätzen abgehandelt, wäre aber eine berechtigte Frage gewesen?
Julian Barnes (Link)

Ab der Mitte wird es ein wenig konkreter und damit besser. Doch insgesamt bleibt es auf sehr hoher Flughöhe. Ja, es ist ein Roman und damit kann man nicht dasselbe erwarten wie bei einer Biographie. Aber trotzdem könnte man meinen, hier wurde eine Kurzbiographie Schostakowitschs mit ein paar historischen Betrachtungen zu Russland und einigen (wohlbekannten) Anekdoten ausgeschmückt.

Für Einsteiger zum Thema Schostakowitsch ist das Buch okay, für Experten überflüssig. Literarische Glanzleistungen sehen anders aus, aber es passt ganz gut für ein Wochenende. Schade ist dann aber, dass es wenig referenzierte Musik von ihm im Buch zu entdecken gibt. Dies wäre etwas rettendes gewesen, nämlich der Anreiz für den Leser, sich dann weiterzubeschäftigen mit Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch.

Sonntag, 12. Februar 2017

Franz Werfel - Verdi

Manchmal hat die Sammelwut auch etwas Gutes. Einst im Rahmen der Erkundung der neuen Wohngegend in einem nicht eben gut sortierten Antiquariat für wenige Heller erstanden, verschwand das Buch "Verdi" schnell im Regal. Eigentlich sollte es was von Frank Wedekind sein (Lulu oder so), aber der Name Franz Werfel hatte solch' Ähnlichkeit, dass es mir gar nicht auffiel, dass ich da etwas ganz anderes in den Händen hielt. 

Franz Werfel (Quelle)
Die Pfennige, die den Eigentumsübergang von kapitalorientiertem Kleingeschäftsmann zu sammelorientiertem Kleinbürger besiegelten, waren - wie schon erwähnt - nicht dergleichen viele. Was eine Voraussetzung war, ja absolute Notwendigkeit darstellte, war doch das Thema "Verdi", damit verbunden "Oper" nicht unbedingt eines jener Gernbeackerten des Autors. Gleichermaßen führte das dazu, dass der Unwissende dies' Büchlein ins Archiv beförderte. 

Nun, Jahre später ist es also so gekommen, dass der Name "Werfel" für den Rezensierenden ganz unabhängig vom Vorhandensein eines Buches eine gewisse Bedeutung erlangt hat, wenn auch über Mahler'sche Umwege. Und die Erinnerung trog nicht: das Buch wurde bei einem Reassortieren des Bücherschrankes gefunden. Und nun MUSSTE es gelesen werden. Kann ja kein Zufall sein... (oder doch?)

Vorweg ist zu sagen, dass "Verdi" in den 20er Jahren eines der erfolgreichsten Bücher war, welches Werfel bis dahin veröffentlicht hatte. Es verursachte sogar - so die Behauptung - ein Wiedererinnern, ein Neukennenlernen des Komponisten Verdi - in Deutschland. Der Roman, für den Werfel jahrelang unter Aufbietung aller seiner Kräfte im Höllenloch Venedig wohnen und recherchieren musste, spielt ebenda im Jahre 1882.

Quelle
Um diese Zeit war Verdi 70 Jahre alt und genau die gleiche Anzahl Jahre zählte auch sein ewiger Konkurrent und der Welten Erneuerer der Musik im 19. Jahrhundert, der schon damals überall bewunderte Richard Wagner. Beide standen trotz Gleichaltrigkeit im Gegensatz zueinander: der Deutsche: Inbegriff der Romantik, des hohen Geistes in der Musik und die Selbstsicherheit in Person. Auf der anderen Seite Verdi: ehedem bewunderter Revolutionsdichter der Italiener in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein Bauernjunge, der sich hochgearbeitet hat und kurzzeitig mit Erfolgen wie Nabucco (siehe Video), Trovatore und Aida sogar als neue Garde der Opernmusik bezeichnet wurde, weil er die südländische leichte melodieorientierte Tradition würdig fortgesetzt hatte. Doch dann kam Wagners Volltreffer in den Zeitgeist der Romantik und auf einmal galt er als abgestanden: Rhythmik, Stimmungen, philosophischer Geist waren nun wichtiger.


Mit 60 schrieb er seine letzte Oper, diese nicht einmal sehr erfolgreich. Und nun, 10 Jahre später, trifft er Wagner zufällig in Venedig. Sie stehen sich kurz gegenüber und Verdi glaubt genau diese deutsche Selbstsicherheit zu erkennen, die er nicht verstehen kann. Ein Augenblick, der in ihm das Verlangen auslöst, doch noch einmal zu komponieren. Trotz aller bösen Gedanken, er sei zu alt, er sei nicht mehr auf der Höhe.


Was zeichnet nun den Roman aus? Es ist vor allem die Sprache und die Komposition. Nahezu perfekt beides. Die wortgewaltige, aber trotzdem leichte und nie übertrieben emotionale oder pathetische Sprache zeigen für mich unzweifelhaft die vollendete Synthese aus deutscher Geradlinigkeit, Romantik und italienischem Humanismus und Sinn für's Detail. Werfel beherrscht die Beschreibung der venezianischen Welt am Ende des 19. Jahrhunderts meisterhaft und schafft es vom Bild des zauberhaften Wasserstädtchens wegzukommen, indem er die Venedig zugeschriebenen Eigenschaften in eine Sprache der Nacht, ja des Sternenlichts hüllt. Genau dies bereitet auch den Boden für die Handvoll von Charakteren, mit denen er im Buch sein Panorama der zeitlichen Stadtbeschreibungen durch sonderhafte, aber niemals unrealistische oder unsympathische Menschen erbaut. Nun eben ganz menschliche Personen sind das! Es geht vom 100-jährigen Gockel, der Anerkennung erwartend durch die Stadt spaziert über den alten heißblütigen Revolutionsfreund Verdis zum als einziger Verdi erkennenden Operneinlasser. Man sieht kalte Opernariensängerinnen, sich betont neumodisch benehmende junge Schnösel. Aber auch arme Familien, deren wenig Glück Verdi erweicht, denen er aber trotzdem nicht helfen kann.

Ohne jetzt weiteres zum Inhalt zu sagen, sei noch erwähnt, dass der Roman ein historischer ist und damit (und auch laut Aussage Werfels) sorgfältig recherchiert sein sollte. Natürlich liegen die Ausschmückung mit Details immer in der Kunstfertigkeit des Autoren. Wohin sie auch gehören. Es kommt einzig und allein darauf an, die "Wahrheit" auszusprechen. Dies erscheint mir gelungen, auch wenn es natürlich DIE Wahrheit nicht gibt. Ein literarisches Meisterwerk und immer wieder faszinierend, was für Schätze manchmal jahrelang in der Nähe darauf warten, geborgen zu werden.

Samstag, 10. September 2016

Elena Ferrante - Meine Geniale Freundin

Lassen wir mal den Hype, das lächerlich betitelte #FerranteFever, beiseite. Den einzigen Einfluß, den dieser auf mich gehabt hat, war, dass ich ihn prüfen wollte und mir also dieses Buch zugelegt habe. Völlig irrelevant ist er aber auf meine Bewertung des Buches.

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Also geschwind zum Inhalt: Neapel, das Unterschichtenviertel, die Fünfziger Jahre. Im Mittelpunkt stehen zwei Mädchen, zu diesem Zeitpunkt gerade Kindergartenkinder: Elena und Lila. Weiterhin einige andere im Viertel ansässige Familien mit meist einfachen Berufen wie Schuster, Gemüseverkäufer, Putzkraft. Es gibt auch einen Don sowie Andeutungen von mafiösen Strukturen. Es bleibt allerdings lange Zeit dabei, da die Geschichte aus der Sicht von Elena beschrieben wird. Zum Ende des Buches hin sind die beiden Mädchen kurz vorm Erwachsenwerden und somit ist im Buch auch die Perspektive der beiden genau wie ihr Alter einem stetigen Wandel unterworfen. 

Die recht flüssige schnörkellose Sprache macht es dem Leser leicht dem Buch zu folgen. Das soll gar kein unterschwelliger Kritikpunkt sein: Da das Buch wie erwähnt aus der Sicht von Elena geschrieben ist, gibt es keine langwierigen thematischen Abschweifungen oder komplizierte Sätze: alles normal aus meiner Sicht. 

Interessant ist vor allem die Dynamik zwischen den Freundinnen. Elena, die gute, kluge, fleißige und introvertierte Schülerin und Lila, die böse, mühelos hochintelligente, impulsive Außenseiterin. Elena lehnt sich in Teilen des Buches stark an Lila an und bis zu einem gewissen Grade ist die "Perfektheit" von Lila recht unglaubwürdig. Dieses Gefühl nimmt mit zunehmender Erzählung allerdings ab. Man wird jedenfalls oft Zeuge der Unsicherheit von Elena, was ihr Sinn im Leben ist, was sie machen soll. In diesen Situationen braucht sie Lila und will es ihr oft Recht machen. Klar, dass dies einer der Zündstoffe der Story ist.

Die/Der Autor/in ist unbekannt, der Name ein Pseudonym.
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Aber auch Lila wird im Buch psychologisch genauestens beobachtet. Nur spielt sich ihre Unsicherheit vor allem in der Interaktion mit ihrem Umfeld ab. Hat sie als Kind in diesen Situationen noch den Bonus, dass sie nun mal ein Kind ist, so ist dies später nach vielen Verflechtungen ihres Schicksals mit dem von anderen (auch der Familie) nicht mehr der Fall. Ihre Aktionen zählen und haben Auswirkungen. Die Autorin bzw. Elena deutet auf mysteriöse Weise an, dass dies Lila innerlich schwerstens belastet.

Wir haben also einen Coming-of-Age-Roman, der leicht zu lesen ist, interessante Charaktere (nicht nur die beiden Hauptcharaktere) besitzt und es tatsächlich vermag, zu fesseln. Auch die Atmosphäre der Hinterhöfe von Neapel in den Fünfzigern wird schön beschrieben. Das Buch gefällt auf jeden Fall, Hype hin oder her.

Dienstag, 12. Juli 2016

Hanna Krall - Dem Herrgott zuvorkommen

Ein "schmales Bändlein" nennt man sowas wohl. Hat das vorliegende Werk doch lediglich knapp 140 Seiten. In dieser (quantitativ sicherlich korrekten) Bezeichnung schwingt aber immer auch eine qualitative Einordnung mit: Lese: Selbst wenn der Inhalt Gefallen findet, so ist es doch nicht möglich, hier mehr als ein "ganz gut" als Wertung zu vergeben, da die "Substanz" (die dem Sujet angemessene Schwere) fehlt.

Quelle
Trivial, dass das in seiner Absolutheit Unsinn ist. Wichtiger als rein äußerliche Maßstäbe sind formale, strukturelle und stilistische Gegebenheiten. Auch eine schriftstellerische Glaubwürdigkeit kann positiv wirken. Betrachten wir also die genannten Punkte.

Es geht um den Warschauer Gettoaufstand 1943. In diesem lehnte sich eine jüdische Gruppe von Gettobewohnern militärisch gegen die deutsche Besatzung und die täglichen zehntausendfachen Verladungen der Bevölkerung in die Konzentrationslager des polnischen Umlandes auf. Nach einer kurzen Anfangszeit der Erfolge, welche hauptsächlich dem Überraschungsaspekt des Widerstandes geschuldet war, wurde der Aufstand nach einem Monat durch Zerstörung des Gettos niedergeschlagen. (Ein Jahr später zerstörten die Deutschen in Reaktion auf den Warschauer Aufstand die gesamte Stadt bis auf die Grundmauern) 

Mittelpunkt des Buches ist einer der wenigen Überlebenden des Gettoaufstandes, welcher damals auch gleichzeitig Kommandeur der Kämpfer war: Marek Edelman. Etwa 35 Jahre später werden mithilfe seiner Erinnerungen verschiedene Aspekte des Aufstandes beleuchtet.  

Quelle
Das Buch konzentriert sich rein auf die meist anekdotischen Erzählungen und Einordnungen Edelmans. Diese werden im Rahmen eines losen Interviews von Hanna Krall und Edelman niedergeschrieben und wechseln sich mit Gedanken von Edelman zu seiner Nachkriegskarriere als Herzchirurg ab. Durch diese Art von Montage, welche Vergleiche zwischen Entscheidungen als Kommandant und Chirurg erlaubt, kann man einige charakterliche Aspekte von Edelman äußerst deutlich erkennen: Sein unerschütterlicher Realismus, seine Ehrlichkeit und seine Klarheit der Haltung bzw. seiner Überzeugungen. In seinen Äußerungen liegen gleichzeitig Abgeklärtheit als auch Nachdenklichkeit. Und genau das macht diese Person als auch die Äußerungen selber so interessant. Denn man bekommt einen Blick auf das Geschehen präsentiert, welcher abseits (bzw. neben) der reinen Schilderung von Elend und Verderben funktioniert und damit ein neues Sichtfeld eröffnet.

Eine mehrdimensionale Schilderung des Geschehens ist für das Erinnern und Verinnerlichen jeglicher Geschehen eminent wichtig! Durch alltägliche Geschehnisse, kleine Geschichten und Nebensächlichkeiten rückt die Schilderung nämlich sehr viel näher an das eigene Leben heran, womit wiederum die "Glaubwürdigkeit" steigt. Man kann sich sehr viel besser vorstellen, dass dies eben doch auch einem selbst passieren könnte. Die ungreifbare "historische Singularität" wird zu etwas schockierend Greifbarem.

Hanna Krall (Quelle)
Natürlich existieren auch die moralisch unmöglichen Entscheidungen, die in einem Ausnahmezustand wie diesem getroffen werden müssen. Opfere ich Leben, um andere Leben zu retten? Wenn ja, ab wann? Ab wie viel Risiko? Dies sind Fragen, welche auch ein Herzchirurg zu Angesicht bekommt, womit die Gegenüberstellung einen interessanten Sinn erzeugt. Edelman vergißt auch nicht, den militärisch eigentlich komplett fehlgeschlagenen und sinnlosen Aufstand richtig einzuordnen. Nämlich als eine rein menschliche Notwendigkeit ("Lieber mit der Waffe in der Hand als in einem in Brand gesteckten Keller oder an Hunger sterben"). Eine zynische Überlegung ist, ob der Aufstand nicht viel mehr Leben gekostet hat als wenn es diesen nicht gegeben hätte. Hätten die Deutschen die Stadt dann genauso zerstört? Interessante Überlegungen, welche wieder offenbaren, wie auch menschlich verständliche "gute" Entscheidungen nicht immer das Gute erzeugen, sondern vielleicht schlichtweg das Gegenteil.

Hanna Krall selber ist die Zuhörerin, lenkt das Gespräch aber auch sanft in die von ihr gewünschte Richtung. Sie wirkt eigenständig und mündig ohne dabei die Macht über die Konversation zu übernehmen. Diese eher distanzierte aber klare Herangehensweise steht dem Buch ausgezeichnet, denn sie passt zur Erzählweise Edelmans und lässt den Inhalt wirken, ohne eine emotionale Überladung erzeugen. Erstens ist diese hier sicherlich nicht nötig, zweitens verstellt sie manchmal den differenzierten Zugang zum Thema. Nach der Lektüre dieses Buches habe ich das Gefühl, genau diesen immer mehr zu bekommen. Ganz kann man das Puzzle nie zusammensetzen, aber versuchen sollte man es schon.

Montag, 23. Mai 2016

Stefan Zweig - Die Welt von Gestern

Der Titel verrät dem Leser schon eigentlich alles, was zu wissen ist. Es geht um eine untergegangene Welt, um unwiederbringlich Verlorenenes, eben um das Gestern. Herausragender Vertreter und gleichzeitig sein Chronist ist Stefan Zweig - einer der erfolgreichsten Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Konsequenterweise ist Zweig selbst mit dem Gestern zusammen untergegangen. Er beging 1942 im Exil während des 2. Weltkrieges Selbstmord.

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Eine auf den ersten Blick reichlich überraschende und vielleicht sogar übertrieben wirkende Handlung. Und auch wenn Zweig ein sensibler und ein wenig dünnhäutiger Vertreter der Autorenzunft war, so erklärt sich diese Tat dennoch nicht vollkommen. Um hinter das Geheimnis seines Freitodes zu kommen, muss man natürlich versuchen, sich den Fakt, dass das Kriegsglück sich 1942 bzw. spätestens 1943 schon der Alliiertenseite zuwand, aus dem Kopf zu schlagen. Weiterhin sollte man den Lebensweg Zweigs miteinbeziehen und seine Überzeugungen und Ideen im Hinterkopf haben. Quasi an dem Platz, den man sich eben noch freigeschlagen hat.

Zweig ist kurz gesagt ein Kind des ausgehenden 19. Jahrhunderts und zwar des Wienerischen 19. Jahrhunderts. Damals eines der Zentren des kulturellen Betriebes in Europa und vor allem Schmelztiegel diverser Kulturen, war die Donaumetropole und Hauptstadt des Kaiserreiches Österreich-Ungarns die perfekte Umgebung für einen aufstrebenden Künstler mit Standesbewusstsein wie Zweig. Er bezeichnete sich immer als Europäer und hatte als Ideal das friedliche Zusammenleben und den ständigen kulturellen und menschlichen Austausch aller Leute dieses Kontinents.

Das gleichzeitig aber stattfindende Hochkochen der nationalistischen Bestrebungen bis zum Siedepunkt 1914 versetzte ihn in erstmaliges Entsetzen, ganz ungleich vieler seiner Zeitgenossen wie z.B. Thomas Mann. Seine Anstrengungen, das persönliche und berufliche Leben nach dieser Katastrophe wieder in Stand zu setzen, verlangte Zweig einiges ab. Er hatte jedoch einen zunehmenden Erfolg bei den Lesern und alles schien sich Mitte der Zwanziger in die richtige Richtung zu bewegen. 

In Salzburg lebend konnte er den gegenüber liegenden Obersalzberg betrachten, aber nicht wissen, dass sein Verhängnis zu diesem Zeitpunkt regelmäßig dort Urlaub machte. Zweig, ein Jude, wurde nach einer geringen Galgenfrist ab 1933 vollständig aus dem öffentlichen Leben getilgt. Er selber war bald im Exil in England. Von dort, unverstanden und unsicher aufgrund der politischen Lage, blieb ihm nur die Rolle des Beobachters und ungehörten Mahners. Bis der Krieg ausbrach und er ins südamerikanische Exil entfloh.

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Und was folgte, war ein beispielloser Triumphzug Hitlers durch ganz Europa. In Zweigs Augen wurde seine Welt ein Land nach dem anderen zerstört. Rücksichtslos und unumkehrlich. Den Glauben und die Kraft, wieder von vorne anzufangen zu können, hatte er im Angesicht dieser Entwicklungen nicht mehr. Er, ein Europäer. DER Europäer.

Diese Autobiographie ist ein absoluter Genuß für den Leser. Interessante Anekdoten über Zeitgenossen und Beschreibungen von Entwicklungen der damaligen Zeit gibt es. Und vor allem die elegante Schreibweise Zweigs. Er schreibt höchst ehrlich über seine Befindlichkeiten, aber auch über seine Versäumnisse und lässt einen - Achtung Floskel - damit tatsächlich ein Stück weit ein in die Welt von Gestern eintauchen. Welche, wie kann es anders sein, sicherlich auch romantisch idealisiert ist. Aber so etwas zeichnet nun mal einen guten Autoren aus. Dies war ganz ohne Zweifel Stefan Zweig. 

Und er hatte ja Recht, diese Welt ist verschwunden. Die Gegenwart beweist es immer wieder aufs Neue.





Montag, 2. Mai 2016

Javier Marías - So fängt das Schlimme an

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Javier Marías könnte in der Top 5 meiner Lieblingsautoren sein. Wenn er denn nur Maß halten könnte... Ach, er kann einen fesseln mit seinen psychologisch tiefschürfenden Romanen. Er benutzt fast immer treffende Shakespeare-Referenzen und auch im vorliegenden ausgelesenen Buch versteht er es vorzüglich, den Leser mit Andeutungen, mit Geheimnissen und unschuldigem Voyeurismus bei der Stange zu halten. Trotz 650 Seiten kann man das Buch nicht weglegen. Auch die altbekannten aus der Tiefe der Seele des Welterfahrenen kommenden Lebenslektionen werden wieder verbreitet und treffen einen. Alles ist vorbereitet für den Showdown. Nahezu perfekt vorbereitet. Wie so oft. 

Juan ist der Erzähler, ein junger Erwachsener, der als Assistent bei Muriel und Beatriz beschäftigt ist. Er bekommt schnell mit, dass der von ihm hochrespektierte und integere Muriel seine Frau regelmäßig despektierlich und beleidigend behandelt. Beatriz nimmt dies hin, meint, daß der Grund, warum er sie so behandelt, eine "Dummheit" ihrerseits war und hofft, dass ihr Mann ihr irgendwann verziehen hat. Muriel bezichtigt sie hingegen, ihn schwerstens hintergangen zu haben. 

Nach und nach gibt es immer mehr Andeutungen, was wohl in der Vergangenheit des Paares passiert sein mag. Warum die beiden sich so behandeln, wie sie sich behandeln. Warum Beatriz mehrere Selbstmordversuche begangen hat. Warum Muriel sich trotz seiner ablehnenden Haltung nicht von ihr trennt. 

Kurz gesagt, es dröseln sich all diese Irrationalitäten und scheinbaren Kleinigkeiten auf, welche eine Liebesbeziehung ausmachen, zerstören und beeinflußen. 

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Zum Ende hin setzt Marías zur Lüftung der Geheimnisse an und vermag es auch, diese einfühlsam und glaubhaft zu präsentieren. Und dann ... schießt er wie SO OFT über das Ziel hinaus. Weniger wäre wie auch bei den beiden vorherigen Romanen, welche ich gelesen habe, mehr gewesen. Im Bestreben, die Geschichte "rund" zu machen, passen die Wendungen auf den letzten 15 Seiten einfach zu perfekt zu allem vorher erzählten. Wäre das Buch ohne diese konstruierten Handlungsstränge ausgekommen, hätte ich es als substantielles und gleichzeitig maßhaltendes Meisterwerk angesehen. So bleibt nur - und das mag für einen so erfahrenen Autor wie Marias eine Beleidigung sein - ihn als großes Talent zu bezeichnen. Das nächste Buch werde ich jedoch - WIE SO OFT - wieder lesen.