Montag, 23. Mai 2016

Stefan Zweig - Die Welt von Gestern

Der Titel verrät dem Leser schon eigentlich alles, was zu wissen ist. Es geht um eine untergegangene Welt, um unwiederbringlich Verlorenenes, eben um das Gestern. Herausragender Vertreter und gleichzeitig sein Chronist ist Stefan Zweig - einer der erfolgreichsten Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Konsequenterweise ist Zweig selbst mit dem Gestern zusammen untergegangen. Er beging 1942 im Exil während des 2. Weltkrieges Selbstmord.

Link
Eine auf den ersten Blick reichlich überraschende und vielleicht sogar übertrieben wirkende Handlung. Und auch wenn Zweig ein sensibler und ein wenig dünnhäutiger Vertreter der Autorenzunft war, so erklärt sich diese Tat dennoch nicht vollkommen. Um hinter das Geheimnis seines Freitodes zu kommen, muss man natürlich versuchen, sich den Fakt, dass das Kriegsglück sich 1942 bzw. spätestens 1943 schon der Alliiertenseite zuwand, aus dem Kopf zu schlagen. Weiterhin sollte man den Lebensweg Zweigs miteinbeziehen und seine Überzeugungen und Ideen im Hinterkopf haben. Quasi an dem Platz, den man sich eben noch freigeschlagen hat.

Zweig ist kurz gesagt ein Kind des ausgehenden 19. Jahrhunderts und zwar des Wienerischen 19. Jahrhunderts. Damals eines der Zentren des kulturellen Betriebes in Europa und vor allem Schmelztiegel diverser Kulturen, war die Donaumetropole und Hauptstadt des Kaiserreiches Österreich-Ungarns die perfekte Umgebung für einen aufstrebenden Künstler mit Standesbewusstsein wie Zweig. Er bezeichnete sich immer als Europäer und hatte als Ideal das friedliche Zusammenleben und den ständigen kulturellen und menschlichen Austausch aller Leute dieses Kontinents.

Das gleichzeitig aber stattfindende Hochkochen der nationalistischen Bestrebungen bis zum Siedepunkt 1914 versetzte ihn in erstmaliges Entsetzen, ganz ungleich vieler seiner Zeitgenossen wie z.B. Thomas Mann. Seine Anstrengungen, das persönliche und berufliche Leben nach dieser Katastrophe wieder in Stand zu setzen, verlangte Zweig einiges ab. Er hatte jedoch einen zunehmenden Erfolg bei den Lesern und alles schien sich Mitte der Zwanziger in die richtige Richtung zu bewegen. 

In Salzburg lebend konnte er den gegenüber liegenden Obersalzberg betrachten, aber nicht wissen, dass sein Verhängnis zu diesem Zeitpunkt regelmäßig dort Urlaub machte. Zweig, ein Jude, wurde nach einer geringen Galgenfrist ab 1933 vollständig aus dem öffentlichen Leben getilgt. Er selber war bald im Exil in England. Von dort, unverstanden und unsicher aufgrund der politischen Lage, blieb ihm nur die Rolle des Beobachters und ungehörten Mahners. Bis der Krieg ausbrach und er ins südamerikanische Exil entfloh.

Link
Und was folgte, war ein beispielloser Triumphzug Hitlers durch ganz Europa. In Zweigs Augen wurde seine Welt ein Land nach dem anderen zerstört. Rücksichtslos und unumkehrlich. Den Glauben und die Kraft, wieder von vorne anzufangen zu können, hatte er im Angesicht dieser Entwicklungen nicht mehr. Er, ein Europäer. DER Europäer.

Diese Autobiographie ist ein absoluter Genuß für den Leser. Interessante Anekdoten über Zeitgenossen und Beschreibungen von Entwicklungen der damaligen Zeit gibt es. Und vor allem die elegante Schreibweise Zweigs. Er schreibt höchst ehrlich über seine Befindlichkeiten, aber auch über seine Versäumnisse und lässt einen - Achtung Floskel - damit tatsächlich ein Stück weit ein in die Welt von Gestern eintauchen. Welche, wie kann es anders sein, sicherlich auch romantisch idealisiert ist. Aber so etwas zeichnet nun mal einen guten Autoren aus. Dies war ganz ohne Zweifel Stefan Zweig. 

Und er hatte ja Recht, diese Welt ist verschwunden. Die Gegenwart beweist es immer wieder aufs Neue.





Montag, 2. Mai 2016

Javier Marías - So fängt das Schlimme an

Quelle
Javier Marías könnte in der Top 5 meiner Lieblingsautoren sein. Wenn er denn nur Maß halten könnte... Ach, er kann einen fesseln mit seinen psychologisch tiefschürfenden Romanen. Er benutzt fast immer treffende Shakespeare-Referenzen und auch im vorliegenden ausgelesenen Buch versteht er es vorzüglich, den Leser mit Andeutungen, mit Geheimnissen und unschuldigem Voyeurismus bei der Stange zu halten. Trotz 650 Seiten kann man das Buch nicht weglegen. Auch die altbekannten aus der Tiefe der Seele des Welterfahrenen kommenden Lebenslektionen werden wieder verbreitet und treffen einen. Alles ist vorbereitet für den Showdown. Nahezu perfekt vorbereitet. Wie so oft. 

Juan ist der Erzähler, ein junger Erwachsener, der als Assistent bei Muriel und Beatriz beschäftigt ist. Er bekommt schnell mit, dass der von ihm hochrespektierte und integere Muriel seine Frau regelmäßig despektierlich und beleidigend behandelt. Beatriz nimmt dies hin, meint, daß der Grund, warum er sie so behandelt, eine "Dummheit" ihrerseits war und hofft, dass ihr Mann ihr irgendwann verziehen hat. Muriel bezichtigt sie hingegen, ihn schwerstens hintergangen zu haben. 

Nach und nach gibt es immer mehr Andeutungen, was wohl in der Vergangenheit des Paares passiert sein mag. Warum die beiden sich so behandeln, wie sie sich behandeln. Warum Beatriz mehrere Selbstmordversuche begangen hat. Warum Muriel sich trotz seiner ablehnenden Haltung nicht von ihr trennt. 

Kurz gesagt, es dröseln sich all diese Irrationalitäten und scheinbaren Kleinigkeiten auf, welche eine Liebesbeziehung ausmachen, zerstören und beeinflußen. 

Quelle
Zum Ende hin setzt Marías zur Lüftung der Geheimnisse an und vermag es auch, diese einfühlsam und glaubhaft zu präsentieren. Und dann ... schießt er wie SO OFT über das Ziel hinaus. Weniger wäre wie auch bei den beiden vorherigen Romanen, welche ich gelesen habe, mehr gewesen. Im Bestreben, die Geschichte "rund" zu machen, passen die Wendungen auf den letzten 15 Seiten einfach zu perfekt zu allem vorher erzählten. Wäre das Buch ohne diese konstruierten Handlungsstränge ausgekommen, hätte ich es als substantielles und gleichzeitig maßhaltendes Meisterwerk angesehen. So bleibt nur - und das mag für einen so erfahrenen Autor wie Marias eine Beleidigung sein - ihn als großes Talent zu bezeichnen. Das nächste Buch werde ich jedoch - WIE SO OFT - wieder lesen.   

Donnerstag, 31. März 2016

Szczepan Twardoch - Drach

Es gibt immer mal Bücher, die einen am Anfang irritieren. Was will der Autor? Warum schreibt er so, wie er schreibt? Wo ist die Story? "Drach" gehört dazu. Selten ist es aber, dass man dies' Buch dann nicht zur Seite legt, da die Eindrücke vom Anfang sich fortsetzen. "Drach" ist so ein Fall. 

Quelle
Wer "Morphin" von Twardoch mit Genuß gelesen hat (ich), wird mit dem Nachfolger gleichermaßen enttäuscht und bestätigt

Enttäuscht, weil wir es hier nicht mit einem Story-getriebenen Buch zu tun haben. Nein, es handelt sich vielmehr um ein oberschlesisches Familienpanorama über mehr als 100 Jahre. Twardoch kommt aus diesem Teil von Polen, der früher auch deutsch war. Er wohnt immer noch dort und hat nach eigener Aussage die Geschichten, welche sich in der Familie abgespielt und über die Jahre gesammelt haben, zu Papier gebracht. 

Bestätigt, weil die expressionistische Erzählweise aus einfachen Sätzen, die von Liebe, Verderben, Aufstieg und Fall handeln, aus wiederkehrenden Motiven und mystischen Elementen immer noch vorhanden ist. Ein Genuß.

Man benötigt aber wie eingangs vermerkt ein Weilchen um "reinzukommen". Es werden massig Figuren eingebracht und teilweise nahe am Selbstzweck vorbeischrammende Detailbeschreibungen geliefert, von denen man erstmal nur die Erkenntnis bekommt, dass der Autor ausgiebig recherchiert hat.

Aber irgendwann macht es Klick, vielmehr Boooom und man liebt es, so wie es ist. Die sehr unterschiedlichen Erzählrhythmen aus langsamen Abschnitten, die sich wie die wohligen Familiengeschichten von Großvater am Kamin anfühlen und dann perfekt geschriebenen explosiven Kapiteln wie die Erzählungen aus dem Grabenalltag des 1. Weltkrieges fesseln einen. Die Charaktere entfalten Wucht, sie kriechen in einen hinein. Dafür also die Kapitel des Anfangs, nämlich für das Setup der Figuren. Dann die unbewegten in gnadenloser Sprache verfassten Beschreibungen von tragischen Schicksalen... Sie rühren einen zu Tränen, ziehen einen herunter. Zusätzlich das Wissen, dass diese Schicksale möglicherweise real sind.

Quelle
Ich habe noch kein konkretes Wort über den Inhalt geschrieben, das ist aber auch nicht wirklich notwendig. Nur soviel: Es gibt zwei Hauptfiguren, beide erleiden schreckliche Schicksale. Die erste Figur, Josef, ist schlicht und einfach perfekt angelegt. Sie steht erzählerisch nicht wirklich im Mittelpunkt, ist aber eindeutig das Zentrum des Buches. Nikodem, die zweite Figur, lebt im Hier und Jetzt und ist sehr lange ein charakterliches Rätsel ohne viel Ausstrahlung. Während Josef eher existentiell ist, da er in einer sehr bewegten und gefährlichen Zeit lebt, ist Nikodem fast schon langweilig belanglos. Substanz gegen Hülle. Auch das ist eine Aussage Twardoch's, wenn man die Zeiten "früher" und "heute" vergleicht - über die sich freilich vortrefflich streiten lässt.

Für mich ein absolutes Must-Have-Buch, wenn der Stil von Twardoch gefällt. Außerdem gewinnt man soviel Zufriedenheit daraus, wenn man ein Buch "versteht", es sich dem Leser also öffnet. Und nun nochmal "Morphin"! 

Samstag, 2. Januar 2016

Andrzej Bart - Die Fliegenfängerfabrik

1942 in einer polnischen Stadt, in der eines der zahlreichen Judengettos eingerichtet wurde. Der Mann, der zuständig ist für hunderttausende eingepferchte Juden tritt vor die versammelte Masse und sagt folgendes:

„Das Getto ist von einem schweren Schmerz getroffen. Man verlangt von ihm das Beste, was es besitzt – Kinder und alte Menschen. [...] Brüder und Schwestern, gebt sie mir! Väter und Mütter, gebt mir eure Kinder! [...] Ich muss diese schwere und blutige Operation durchführen, ich muss Glieder amputieren, um den Körper zu retten! [...] Legt eure Opfer in meine Hände, damit ich weitere Opfer verhindern kann, damit ich eine Gruppe von 100.000 Juden retten kann.“

Link
Diese unglaublichen Worte wurden von einem Juden gesprochen, von Chaim Rumkowski, dem Vorsteher des sogenannten Judenrates der Stadt. Und er stand hinter ihnen. Für ihn waren sie notwendig im Sinne seiner Überlebensstrategie "seiner" Juden. Das klingt erstmal absurd, aber der Hintergedanke war folgender: Die Deutschen beuteten zu Beginn des Gettos die Arbeitskraft der Juden aus. Wer arbeitete, der hatte eine Chance zu überleben. Wer nicht arbeitete, starb. Wenn man es nun schaffte, möglichst viele für die Deutschen kriegswichtige Betriebe und Industrien im Getto anzusiedeln, würden erstens mehr Juden überleben und zweitens - wichtiger! - die Industrien länger erhalten bleiben und somit wiederum mehr überleben. 

Diese Strategie sorgt dafür, dass das Getto bis ins Jahr 1944 und damit mehr als zwei Jahre länger als alle anderen Gettos bestehen bleibt. Dies allerdings unter immer schlimmeren Bedingungen, wie oben beschrieben.

(Übrigens erklärt sich dadurch der Titel des Romans, denn eine solche Fliegenfängerfabrik gab es tatsächlich)

Im Jahr 1944 wird das Getto "evakuiert", was nichts anderes bedeutet, als dass so gut wie alle Gettobewohner nach Auschwitz oder Kulmhof (beides KZs) gebracht werden. Auch Chaim Rumkowski ist dabei. Berichten zufolge wird er von den KZ-Insassen am Tag seiner Ankunft herumgeführt und danach ins Krematorium gestoßen, wo er bei lebendigem Leibe verbrennt.

Warum? Dieser Frage geht das Buch auf höchst originelle Art und Weise nach. In einem fiktiven Prozess mit Gott als Richter und historischen Figuren als Staatsanwalt, Verteidiger und Zeugen werden die Persönlichkeitszüge des Chaim Rumkowski von mehreren Seiten ergründet, teils über erdachte Episoden, in der Mehrzahl aber über historisch verbürgte Situationen und Aussagen. Wer war der Mann, der nach späteren Aussagen der Bewohner diktatorisch, herrisch und rechthaberisch über sie verfügte, welcher Paraden zu seinen Ehren abhielt und Briefmarken mit seinem Konterfei einführte? Der allerdings auch unter jeder Entscheidung, die das Leid vergrößerte, körperlich unheimlich litt und der vor dem Krieg ein Waisenhaus führte. Dieser Frage wird mithilfe der Gerichtskonstruktion nachgegangen.

Link
Dieses Buch ist für mich ein sehr gutes, da es eine Leichtigkeit im Lesen besitzt. Dies ist zum Einen auf die zurückhaltende, verbindliche sowie teils leicht ironische Sprache des Autors zurückzuführen, zum anderen funktioniert die Gerichtsverhandlung tatsächlich als erzählerische Klammer. Die Schwere des Sujets spiegelt sich nicht im Lesen wider, man liest sehr flüssig. Das Interesse des Lesers wird auch durch die mühelos gelungene Vermischung von Realität und fantastischen, fast schon ein wenig gespenstischen Stellen erreicht, welche allein schon durch das Auftreten lange toter Menschen - viele davon qualvoll ums Leben gekommen - erzeugt wird.

Alles in allem ein sehr gelungener Roman, der berührt und unterhält sowie bildet. Eine Kombination, die ich nur sehr unterstützen kann.

Donnerstag, 31. Dezember 2015

Elfriede Jelinek - Macht nichts

Die Jelinek hat auf der einen Seite reichlich psychischen Ballast (ein augenöffnendes und schmerzhaftes Interview), woraus Menschenscheue und schwer bezähmbare Wut entsteht. Diese ist Fluch und Segnung zugleich, da sie diese Wut in erbarmungsloser Weise in die Welt herausschreibt. Sie schreit sie nicht, denn dies ist keine Wut der Feurigkeit, sondern eher eine der Eiseskälte. Und wie das bei extremen Emotionen oft ist, so lassen diese keinen Blick zur Seite zu.

Link
Zum Inhalt des äußerst schmalen Büchlein "Macht nichts" ist folgendes zu sagen: Es sind drei kurze Geschichten enthalten. In deren erster eine Burgschauspielerin nach ihrem Tode noch einmal und immer wieder gefeiert wird, obwohl sie tiefe Verwicklungen in den Nationalsozialismus hatte und nie bereut hat. Die Menschen, welche die Schauspielerin bejubeln, wissen dies, doch es kümmert sie nicht. In der zweiten Geschichte wird in einem Dialog zwischen Schneewittchen und dem Jäger über das Unmöglichsein von Wahrheit und Schönheit gesprochen, wenn diese entkoppelt von Realismus, Intelligenz und Berechnung sind. Was wiederum einen Bogen zur ersten Geschichte baut. Das Verkehren von Opfer und Täterstatus nach historischen Umwürfen ist das Thema der dritten Geschichte "Der Wanderer", in der der geisteskranke Vater der Autorin nur "noch wandert, nichts als wandert". Und auch hier kann man natürlich den Bezug zum Nationalsozialismus herstellen.

Es geht also im weitesten Sinne darum, dass der Tod nicht immer die letzte Instanz ist, das Ende ist. Während in der ersten Geschichte der Tod die Schauspielerin nicht in Vergessenheit geraten lässt, ist für Schneewittchen der durch den Jäger fabrizierte Tod das Ende. Beim Vater der Autorin ist wohl der Tod eigentlich schon deutlich vor dem biologischen Ableben eingetreten. Der Tod ist auch nicht gerecht (das war er natürlich noch nie). Genauso sind Deutungen in Richtung der aus Sicht der Autorin muffigen, reaktionären Situation der Menschen in Österreich zulässig.

Link
Kurz zur Sprache: Diese ist eindimensional, atemlos, getrieben, keiner Syntax, keinem Takt folgend, mal schnell, mal genüßlich getragen und nicht immer leicht zu verstehen. Einen Rhythmus erzeugt dieses Lawinenhafte dennoch, aber einen, der schnell müde macht. Das Zynische bei der Jelinek ist nicht platt, ganz und gar nicht - aber genauso nicht feingeistig oder gar hintergründig. Es besitzt kalte Wut an der Grenze zum Hass vermischt mal mit Selbstgefälligkeit, mal mit Verzweiflung. Auffällig sind auch diese martyrienhaften Bilder, die sie immer wieder heraufbeschwört. Da werden Fleischstücken aus Menschen gerissen, Knochen ragen raus und Menschenmengen zerfetzen Figuren. 

Was ist nun das Poetische an den Geschichten, das Bedeutungsvolle? Die Sprache ist es aus obigen Gründen nicht, der Inhalt und die Komposition auch nicht. Diese drei Sachen sind quasi mittelmäßig oder zumindest nicht besonders herausstechend. Was ich toll finde, ist die Erbarmungslosigkeit, mit der Jelinek sich selbst offenbart und in die Öffentlichkeit, in den Gegenwind stellt und damit ihre Eigenständigkeit beweist. Wir haben es hier wirklich mit einer Dichterin zu tun, für die Kunst das Leben ist. Sie kann nicht anders. Sie ist kein bißchen epigonal, sondern steht komplett alleine da draußen. Solche Figuren gibt es nicht oft. Wenn man sie sieht, sollte man sie im Auge behalten.

Samstag, 13. Juli 2013

Von Prag nach Sibirien

Gaaanz frühes Foto. (Quelle)
Es bewahrheitet sich mal wieder die Erkenntnis, dass Kunst, egal ob Literatur, Musik oder Malerei oder sonst etwas, fast immer eine ganz neue Bedeutung bekommt, sobald sie mit einem persönlichen Bezug "aufgeladen" wird. Vormals gute wird zu wichtiger und sehr gute zu genialer Kunst. Zumindest für einen selbst. Andere werden das schwer verstehen, weil sie nicht denselben Bezug haben. Vielleicht aber einen eigenen. Das ist - nebenbei gesagt - das Tolle an ihr und gleichzeitig das schwierige, das diffizile.

Gustav Meyrinks "Der Golem" basiert lose auf der Sage aus Prag, in welcher ein jüdischer Rabbi aus Lehm eine lebende Masse zur Hilfe der Gemeinde formte. Der Golem war allerdings bald widerspenstig, richtete Verwüstung an und musste vom Rabbi das Lebenslicht wieder entzogen bekommen. Die Lehmmasse wird noch heute in einer Synagoge in Prag vermutet. Meyrink baut um diesen Mythos eine Geschichte eines mysteriösen, des Gedächtnisses verlustig gegangenen Gemmenschneider mit dem fantastischen Namen "Athanasius Pernath" auf. Dieser lebt im jüdischen Ghetto von Prag um etwa 1880 rum. Erzählweise und auftretende Figuren, die Handlung - alles ist nebulös, mysteriös, kapriziös. Immer schwebt der eigenwillige Charme der jüdischen Mythologie (vgl. Kabbala) im Raum und man bekommt den Eindruck einer abgetrennten Welt in der Welt. Meyrinks Erstling bewegt sich sprachlich und atmosphärisch in den Fußstapfen von Edgar Allan Poe, nur halt im Setting von Prag.

Ist das der Golem? Hm... (Quelle)
Was wir also hier haben, ist eine mysteriöse Geschichte mit Mindfuck-Elementen, mit eleganter Sprache und düsterer Atmosphäre. Das allein macht es zu einem sehr guten Buch. Die abermalige Referenzierung von bekannten Orten aus Prag macht es für mich dann zu einem genialen. Denn wie bei Clemens Fischers Beschreibungen von Leipziger Ortschaften entsteht dadurch ein tieferer Bezug. Bei allem Anregen von Phantasie -  wenn man von den Plätzen und Orten des Buches ein genaues Bild im Kopf hat, ist das einfach wunderbar.

Einen anderen persönlichen Bezug hat Alexander Issajewitsch Solschenizyns "Ein Tag im Leben des Iwan Dennisowitsch". Iwan Dennisowitsch Schuchow (ich liebe diese russischen Namen!) ist Sträfling in einem russischen Arbeitslager in Sibirien ein paar Jahre nach dem 2. Weltkrieg. Er hat für angebliche Spionage für die Deutschen 10 Jahre in diesem Lager aufgebrummt bekommen. Wie zu erwarten, ist die Arbeit knüppelhart, das Wetter unmenschlich und die Aufseher unwirtlich (oder andersrum?). Wie der Name schon sagt, wird ein Tag in diesem Lager aus Sicht von Schuchow beschrieben. Je mehr ich las, desto mehr projizierte ich Schuchow auf jemanden, der so etwas wirklich unter ähnlichen Umständen erlebt hat.
Alexander Issajewtisch in seiner
Sträflingszeit. (Quelle)

Das Buch ist in seinem Kern ähnlich zu "Die Wand", in welcher ja auch "nur" das Leben der Hauptfigur beschrieben wird (bis auf eine Wendung am Schluß). Die tiefe Identifikation mit Schuchow lässt einen aber immer weiterlesen, gerade auch, weil im ganzen Buch keine versteckten Seitenhiebe, keine Wertungen, rein gar nichts an politischer Botschaft vorhanden ist. Schuchow hat für so etwas nach Jahren im Lager keine Zeit und keinen Nerv, andere Dinge sind wichtig. Was einen fasziniert, ist der Pragmatismus der Leute, der Zusammenhalt, der Lebenswille. Vor allem bei Schuchow erkennt man auch unglaubliche Klugheit, in allem, was er macht. Eigenschaften und Umstände, die wohl jeder gerne hätte.

Schwarz und weiß, endlich rot! (Quelle)
So ist es dann auch folgerichtig, dass man das Buch nach dem Auslesen mit einem guten Gefühl weglegt. Bizarr, denn trotz des gut verlaufenen Tags bestehend aus 12 Stunden Knochenarbeit, Haferbreimahlzeiten, minus 30 Grad Kälte und Wachmannschaftsschikanen, hat ja Schuchow immer noch mehrere Jahre vor sich. Auch danach wird es für ihn schwierig, wieder ins Leben zurückzufinden. Und eine nach der Freilassung sich andeutende Verbannung verkompliziert das ganze zusätzlich.



Zwei mal die absolute Höchstwertung - hätte ich so etwas. Deswegen bleibt mir nur, diesen ganzen Absatz rot zu färben.  

Donnerstag, 11. Juli 2013

Eine - nein - zwei Novellen

Novellen haben den Vorteil, dass sie meist flink zu lesen sind, denn sie sind definitionsgemäß eher kurz. Problematisch dabei ist, eine tiefgehende Wirkung zu erzielen, wenn doch der Raum zum Entfalten der Geschichte so begrenzt ist. Umso mehr kommt es auf das Können des Autoren an. Er muss eine spannende Geschichte erzählen, oder eine oberflächlich gesehen langweilige auf spannende Weise. Er sollte dabei den Leser bei der Stange halten, gerade auch mit den Mitteln seiner Sprache. Doch verschwurbelte Schachtelsätze bieten sich auf dem begrenzten Seitenraum der Novelle gemeinhin nicht unbedingt dafür an. Jedoch, eine bloße Anhäufung von Fakten ohne stilistische Besonderheiten, gehen am zu erreichenden Ziel auch wieder vorbei. Man sieht, es ist fürwahr eine Kunst, eine gute Novelle zu verfassen.

Äh... Augenbrauen.  (Quelle)
Zwei von ihnen sind "Ein fliehendes Pferd" von Martin Walser und "Ich und Kaminski" von Daniel Kehlmann. Es stehen sich also zwei Generationen des teutschen Schriftstellertums gegenüber. Dies aber nicht unversöhnlich und erst recht nicht ohne Gemeinsamkeiten. Gemeinsam haben sie z.B., dass sie mit diesen beiden Werken zwei gute Zeugnisse ihrer Kunst fabriziert haben.

Komisches Pferd. (Quelle)
Wer Martin Walser heute kennt, wird an ihn als einen alten, weißbehaarten Mann denken, der mit seinem schweizerisch angehauchten Dialekt und wohlklingender tiefer Stimme wie der respektierte, lebenskluge, aber etwas eigensinnige Opa des Dorfes wirkt. Manche werden sich an die für ihn stürmische Zeit vor etwa 10-15 Jahren erinnern, in der er aufgrund einer Rede und eines anschließend veröffentlichten Buches arg im Fokus der (Medien-)Kritik stand.

Dass nun dieser Mensch in "Ein fliehendes Pferd" über zwei Beziehungen, die gegenteiliger nicht sein könnten, schreibt, sollte noch nicht verwundern, hat er doch in den letzten Jahren fast ausschließlich über die zwei Themen geschrieben, welche unvergänglich sind: Liebe und Tod. Sehr wohl überraschend wirkt aber der Stil und die unverblümte Taktlosigkeit, mit der er in seiner Novelle die Geschichte so oft auflockert. Walser hatte wohl einen geradezu diebischen Spaß daran, vulgäre Episoden und Ausdrücke in seine Geschichte einzuflechten. Erfrischend und unverhofft! Die Geschichte bleibt dabei jedoch stets im Vordergrund und wird gerade am Ende umso spannender. So sollte es sein!

Bloß keine Zähne zeigen! (Quelle)
Kehlmann's "Ich und Kaminski" dagegen punktet eher mit seiner bizarren Handlung und mehr oder weniger offensichtlichen Seitenhieben auf Kunst und Kritik derer. Wenn man so will, geht es bei Walser eher gemächlich los, bei Kehlmann mit einem Paukenschlag. Sofort wird der Kritiker, mit dem sich der Leser identifizieren soll (oder auch nicht), hinreichend beschrieben, indem sein Arschloch-Verhalten, seine Eingebildetheit und seine heimliche Angst vor dem Zerbrechen dieser Mauer offengelegt wird.

Ist das Kunst oder kann das weg?
(Quelle)
Die Geschichte vom Kritiker Zöllner, der schnell Geld machen will, weil er den längst vergessenen Künstler Kaminski mit einer Biographie "würdigen" will, welche schnell auf den Markt geschmissen werden soll, da Kaminski kurz vor dem Exitus steht - ja, diese Geschichte ist reich an plakativen Momenten, welche Klischees übererfüllen, aber auch reich an Wendungen, die man als Leser so nicht erwartet. Im Zuge dieser bröckelt die Überlegenheit des Kritikers gegenüber dem Künstler langsam dahin und ein melancholisches Ende läßt einen sowohl zufrieden als auch ein wenig traurig zurück. Melancholie eben.

Beide Novellen haben das gewisse Etwas, jeweils auf verschiedenen Ebenen. Walser höre ich jedoch lieber zu, er ist gemütlicher und wirkt ungezwungener und nicht überehrgeizig. Allerdings ist gerade dies das Privileg der Alten.