Dienstag, 31. Juli 2012

Antonio Tabucchi - Indisches Nachtstück

Wer sind wir? Wofür sind wir eigentlich hier, an diesem speziellen Ort? Und warum genau hier und nicht woanders? Reizen wir unser Potential aus? Verhalten wir uns, wie wir uns verhalten wollen? Oder eher so, wie es andere von uns erwarten? ...

Da Book from Tabucchi *lame* (Quelle)
Schwerwiegende Fragen, auf die dieses zierliche Büchlein von Antonio Tabucchi leider keine zufriedenstellenden Antworten liefert. Doch eine Erkenntnis wird dem parabelerprobten Leser relativ schnell gewahr: Das Leben ist voll von Mißverständnissen. Das, was einem jetzt sinnvoll und/oder begehrenswert erscheint, kann im nächstem Moment genau das sein, was besser so geblieben wäre, wie es war. Diese Einsicht wäre aber andererseits nie aufgetaucht, wäre man seiner ersten Eingebung nicht gefolgt. Oft sind die Mißverständnisse auch eher kleinerer Natur und entstandene Probleme nicht schwerwiegend. Man kann nun aus diesen Gedanken schließen, dass das Leben eben nicht voll von Mißverständnissen ist, sondern eher von Chancen und Gelegenheiten. Und weiter gedacht: Soll man sie alle wahrnehmen? Oder eine goldene Mitte finden, die es wahrscheinlich nur theoretisch gibt?

Und am Ende findet man sich so dann doch wieder bei kaum zu beantwortenden Fragen wieder. Wo man doch gedacht hat, eine Erkenntnis gewonnen zu haben, nachdem man über das Buch nachgedacht hat. So wie ich in diesem Moment *damn*.

Die Parabel des Buches ist folgende: Ein Mann reist nach Indien und sucht nach einem anderen Mann, den er von früher kennt. Er hat nur bruchstückhafte Informationen und reist dem Gesuchten mithilfe seiner immer wieder mühevoll erweiterten Informationen quer durch Indien hinterher. Natürlich begegnet er vielen Menschen und erlebt einiges (was episodenhaft beschrieben wird). Endlich findet er die Person auf der Terrasse eines Hotels. Er sieht den gesuchten Mann während des Essens. In diesem Augenblick wird ihm klar, dass er eigentlich keine Lust hat, ihn anzusprechen. Er merkt, dass er den gesuchten Mann - jetzt, wo er ihn gefunden hat - nicht mehr finden will. Warum? Das wird absichtlich im Raum stehen gelassen, genau wie das ursprüngliche Motiv für die Suche.
Intellektuelle-Denkerpose-B-Note: 6.0, Herr Tabucchi. (Quelle)

Indien, welches seit den 70er Jahren Anziehungspunkt von Aussteigern und Sich-selbst-Findern ist, bietet sich als Schauplatz der Geschichte natürlich gut an. Wieviele Menschen gab es, die einen spirituellen Selbstfinde-Trip dorthin gemacht haben? Und wieviele von denen haben sich wirklich selbst gefunden? Wieviele nicht? Wievielen davon ist klar, dass diese Reise doch ein Mißverständnis war?

"Indisches Nachtstück" ist so, wie eine Parabel sein sollte: nicht zu aufgeblasen (sprachlich), erfrischend kurz und frei von philosophischen On-the-fly-Kontemplationen/Assoziierungs-Orgien. Dafür ist ja dann der Geist des Lesers zuständig. Der Anspruch ist damit auch der einer Parabel und nicht der eines Romans. Spannung ist kaum vorhanden, Identifikation setzt eher nachträglich ein und die Handlung ist von Sprüngen durchsetzt. Um das Gegenteil davon zu bekommen, lese ich dann eben einen Roman und keine Parabel - damit das klar ist ;-)

Sonntag, 15. Juli 2012

Ministry



ist Al Jourgensen. (Quelle) Und Al Jourgensen:


Herion is noch viel härter als Heroin!
  • hat ein eigenes Meme --> 
  • arbeitet sich den Drogenbaum rückwärts: fängt mit Heroin, Speed, LSD und Kokain an und ist nun bei Marihuana, Bier und Zigaretten angelangt
  • war nicht einmal (HEADSHOT!), nicht zweimal (DOUBLE KILL), sondern dreimal tot (RRRRRAMPAGE)
  • trägt alle möglichen Kopfbedeckungen (Cowboy-Hut, Stahlhelm, Zylinder, Ritterhelm, Polizeimütze, Bandana) ... und er kann es!
  • hatte einen Gastauftritt bei A.I. (dem Film) und dachte, das stehe für "Anal Intruder"
  • legt Methadonköder aus, um Ratten zu verlangsamen, damit er sie mit der Schrotflinte abschießen kann
  • hat 750.000 $ Plattenvorschuss innerhalb eines halben Jahres für Drogen verprasst
  • hat drölftausend Side Projects, unter anderem die "Revolting Cocks" und die "1000 Homo DJs"
  • lässt sich von seiner Tochter überreden, gepierct zu werden --> 12 Piercings an einem Tag
  • nennt seine Touren ClitTourUS, MasterbaTOUR, CU La TOUR, DefibrillaTOUR


Und das beste: Er macht großartige Musik. Das Plattentriumvirat "The Land Of Rape And Honey", "The Mind Is A Terrible Thing To Taste" und "Psalm 69" ist so geil und originell, dass es weh tut, dass die Outputs danach meist nicht mehr wirklich an diesen Standard rankamen. Ist aber auch schwierig.

Die 80er waren ja musikalisch zum großen Teil eine katastrophale Periode. Doch es gibt Ausnahmen. Und da gehören Ministry eindeutig dazu. Sie schaffen es sogar, typische 80er-Industrial-Sounds cool klingen zu lassen. Um mal einen Eindruck zu liefern, ein paar YT-Vidz der drei oben genannten Platten. Wie immer gilt: LAUT hören! Gerade bei Industrial. Man muss dazu sagen, dass Einhörzeit auf jeden Fall notwendig ist. Außer bei Stigmata :-)


Ministry hat im Prinzip die gesamte Industrial-Rock/Metal-Szene der 90er möglich gemacht. Trent Reznor von Nine Inch Nails war z.B. Roadie bei Ministry, Marilyn Manson ist Protegé von Reznor, Jonathan Davis von Korn bezeichnet Ministry als Vorbild und Rammstein haben für "Du Hast" eigentlich das Riff bei "Just One Fix" geklaut ;-)

Der Einsatz von Samples in Verbindung mit harten Gitarren war etwas, was es vor Ministry nicht gab. "The Land Of Rape And Honey" von 1988 ist ein Hammer-Album, wenn man ein wenig auf Industrial und Metal steht. Auf der Platte gibt es Songs und Soundcollagen zu hören, die man sich super in einem verrauchten 80er-Underground-Schuppen á la "American Psycho" vorstellen kann.


Das Konzert von Ministry in Leipzig war jedenfalls eins der lautesten, was ich je gehört habe. Und es fühlte sich wie eine Zeitreise ins Jahr 1992 an. Überall Gruftis mit Armeehosen, Dreads, Bandanas und Springerstiefel. Damals Leute der Alternative-Szene, die dann bald nicht mehr alternativ war. Heute sind diese Menschen es wieder. Außerdem ein wenig älter und gesetzter (wobei meine blauen Flecken widersprechen). Genau wie Al Jourgensen. Nur ist der noch immer genauso verrückt wie damals


Freitag, 13. Juli 2012

Simon Beckett - Die Chemie des Todes

Die letzten 150 Seiten waren in etwa zwei Stunden durchgelesen. Die ersten 50 innerhalb einer halben etwa. Der Rest, also alles dazwischen, dauerte ein wenig länger. Was im Grunde schon eine gute Annäherung an das Lesevergnügen bei "Die Chemie des Todes" darstellt.

Is' das nich' die Diablo-Schrift?! (Quelle)
Der Titel und die astronomischen Verkaufszahlen (6 Auflagen allein im Erscheinungsjahr!) versprechen ja einiges. Und wie gesagt, die ersten Seiten dieses Krimis enttäuschen auch nicht. Nach der sehr eindringlichen Beschreibung des Fundes der ersten Leiche wird im folgenden geschickt eine unheimliche Atmosphäre erzeugt. Diese ergibt sich aus der Abgeschiedenheit des Settings (einsamer englischer Ort in der Pampa) und dem Gegensatz zwischen Hauptfigur (Dr. David Hunter) und den latent feindlichen bzw. skurrilen Dorfbewohnern.

Im Mittelteil werden mehr Opfer entdeckt und die Hilflosigkeit und Verzweiflung des Dorfes wird zum Hauptgegenstand der Seiten. Insgesamt geht es aber handlungstechnisch kaum vorwärts, außer der Bereitung der obligatorischen Liebesbeziehung und folgenden Entführung der Liebsten des Doktors.

Simon sez: Die! (Quelle)
"Die Chemie des Todes" ist also ein sehr klassischer Krimi. Falsche Fährten, hilflose Polizisten, Endkampf und immer wieder falsche Fährten. Vor allem am Ende, welches unheimlich an Fahrt aufnimmt. Man verschlingt förmlich jede Seite. Der Anfang des Schlussteils ist ein wenig enttäuschend, weil sehr vorhersehbar. Doch - BAM! - falsche Fährte! Und sogar noch auf der letzten Seite wird man auf so eine gelockt, was aus einem happy/bad ending ein bad/happy ending macht (Reihenfolge hat nix zu sagen :-P ). Geschmackssache.

Geschrieben ist das Buch sehr locker flockig. Man pflügt es durch, auch weil die Handlung meist im Mittelpunkt steht. Es gibt kaum Passagen, die den Spannungsaufbau künstlich verlängern. Von einem Triumph der hochklassigen Schreibkunst kann man also nicht sprechen, aber das wollte Beckett sicher auch gar nicht. Fakt ist, dass "Die Chemie des Todes" mitzieht und unheimlich spannend ist.


Donnerstag, 21. Juni 2012

Javier Marías - Mein Herz so weiß

Ja, der Titel klingt nach "Schnulze". Doch oha, er stammt aus "MacBeth". Ein Buch mit künstlerischem Anspruch also. Rette sich, wer kann!!
Cooler Ohrring! (Quelle)

Aber nein, so ist es nun auch wieder nicht. "Mein Herz so weiß" ist ein sehr schönes Buch mit zwei, drei Schwächen, die aber nicht besonders ins Gewicht fallen. Und als Student lernt man ja auch strukturiertes Denken *örks*, also gehe ich mal ganz systematisch ran.

Hier die Argumente, warum das Buch gut ist:

  • Der Einstieg in das Buch ist genial, genial, genial. "Mit der Tür ins Haus fallen" wird hier ganz neu definiert. Direkt der erste Satz gleicht einem Schlag in die Magengrube, denn in ihm erfahren wir sofort den Dreh- und Angelpunkt der Geschichte: Eine junge Frau geht während eines Familienessens seelenruhig ins Bad, entkleidet sich und schießt sich mit einer Pistole in die Brust. Die darauf folgende Beschreibung der Reaktionen der Familie ist höchst voyeuristisch und genau deswegen so bewegend.

  • Erzähler des Buchs ist Juan, Neffe des o.g. Mädchens, welcher damals noch nicht geboren war. Er beschreibt sein Leben als Dolmetscher und vor allem seine Schwierigkeiten und Gedanken als frisch gebackener Ehemann seiner Frau Luisa. Diesen Überlegungen hört man als Leser gerne zu (paradox!), denn sie spiegeln oft das wieder, was einem selbst höchstens unterbewusst klar ist oder was sonst unausgesprochen bleibt.

  • Einige Szenen, welche aus seinem Dolmetscher-Leben zum Besten gegeben werden, sind äußerst originell und lustig zu lesen. So übersetzt er beim Treffen zweier Regierungschefs die Worte der beiden mit Absicht falsch um ein (für ihn) interessanteres Gespräch ins Laufen zu bringen.

  • Juan's Vater Ranz ist der eigentliche Star des Buchs. Er ist der Mann des Mädchens, welches sich umgebracht hatte. Das ganze Buch über hat man das ungute Gefühl, dass irgendwas diesen lebensfrohen Mann kompromittieren wird. Langsam wird diese Spannung immer unerträglicher, bis sie am Ende mit einem großen Knall aufgelöst wird. Und wenn sie das dann wird, kann man es nicht glauben, obwohl es über das ganze Buch über angedeutet wird (aber eben sehr subtil).

  • Trotz spanischer Herkunft des Autors (welch Stigma!) ist der Schreibstil relativ flüssig und nicht zu blumig. Auch sehr lange Sätze bringen einen nicht aus dem Lesefluss, weil sie gleichzeitig künstlerisch und nachvollziehbar sind. Insgesamt liegt hier ein warmherziger Schreibstil vor, der aber nie zu kitschig wird, wenn es um Gefühle geht.


Was ist nicht so gelungen?

Chafjeh Marrrriasfsfs (Quelle)
  • Die Beschreibung von Luisa gefällt mir nicht. Ich bin mir bewusst, dass sie einem Archetypen entsprechen soll. Aber muss dieser Archetyp wirklich der der perfekten Frau sein? Sie ist hübsch, intelligent, lebenslustig, ordentlich und moralisch einwandfrei. Das Problem bei dieser Typisierung ist meiner Ansicht nach, dass die Figur niemals zum Leben erwachen kann, da sie so verdammt makellos und damit unglaubwürdig ist.

  • Die erste Hälfte des Buchs ist besser als die zweite. In dieser zweiten Hälfte wird viel Zeit auf die Beschreibung von anderen Beziehungen verwandt, wahrscheinlich, um das Spektrum von Beziehungstypen abzudecken (da das Buch ja auch einen philosophischen Anspruch hat). Zur Geschichte trägt das aber nicht sehr viel bei.

  • Feel-Good-Ende-Of-The-Summer (in Form des Epilogs). Lame! Deswegen hol ich das eigentlich angedachte Ende hier nach :


Lady MacBeth: 

"Meine Hände Sind blutig wie die deinen; doch ich schäme Mich, daß mein Herz so weiß ist."



Dienstag, 12. Juni 2012

Antoine De Saint-Exupéry - Der Kleine Prinz

Blond und blauäugig! (Quelle)
Es verbietet sich meiner Meinung nach, viel über "Der Kleine Prinz" zu schreiben. Denn was macht den Zauber dieser Geschichte aus? Jedenfalls nicht die mannigfaltigen Deutungsmöglichkeiten, die von "Literaturwissenschaftlern" (Literaten?) vorgeschlagen wurden. Diese sind doch eher das Produkt eingehender Beschäftigung mit der Frage "Was kann der Autor gemeint haben (, was noch nicht von anderen so erkannt wurde)?". Glaubt denn wirklich jemand, dass sich diese Leute beim Lesen spontan gedacht haben "Wow, das ist eine Allegorie auf das besetzte Frankreich im 2. Weltkrieg"? Ich will gar nicht abstreiten, dass man manche Stellen entsprechend interpretieren könnte. Aber im Vordergrund sollte doch die Geschichte stehen. Kein Autor schreibt eine Geschichte nur als metaphorisches Vehikel seiner "Zivilisations- und Religionskritik" (wie ich es auf verschiedenen Websites lesen konnte).

"Der Kleine Prinz" ist ein Märchen, punktum. Es besticht vor allem durch seine zauberhafte Einfachheit. Der Prinz ist ein neugieriges, kindartiges Wesen, welches allerlei Fragen stellt und "mit dem Herzen sieht". Im Unterschied zu anderen Erzeugnissen ähnlicher Natur wird das aber nicht pro Seite zweimal betont, sondern man merkt und fühlt es einfach beim Lesen. Auf seiner Reise durch das Weltall (er kommt von einem Planeten, welcher so klein ist, dass er pro Tag 43 Sonnenuntergänge sehen kann, indem er einfach seinen Stuhl weiterrückt) trifft er viele andere Spezies, welche allegorisch für Charaktereigenschaften stehen (der König, der Eitle, der Säufer usw. usf.). Stets besorgt um seine eine Blume (welche er hingebungsvoll pflegt) und seine drei Vulkane (welche ihm bis zur Hüfte gehen) begegnet er auf der Erde einem abgestürzten Piloten in der Wüste (AdSE selbst?), welcher die Erzählerrolle einnimmt. 

Auf einem Flug verschollen: AdSE (Quelle)
In erster Linie ist die Geschichte rührend, in zweiter Linie Transporteur verschiedener Lehren. Diese sind natürlich grundlegender Natur (sich um andere kümmern, sie nicht von oben herab behandeln, über andere richten ...), werden aber nicht mit dem Vorschlaghammer eingetrichtert.

Nicht mehr, aber auch nicht weniger ist zu diesem Büchlein zu sagen. Es verdient Aufmerksamkeit aufgrund seiner Qualität, aber nicht die übertriebene, welche ihr von deutungswütigen DasLiterarischeQuartettGuckern zuteil wird. 

Freitag, 8. Juni 2012

Paulo Coelho - Der Alchimist

In der Tradition der Harald-Schmidt-Show ein kleines Bilderrätsel:



Nie war ein Buch für den Titel dieses Blogs so geeignet, ist es doch mit folgenden Afforismen hinreichend beschrieben:

Folge deinem Herzen!
Der Weg ist das Ziel.
Live for the moment!
Die Augen sind der Spiegel der Seele.
Love conquers everything.
Gott ist in allem.
Hör auf dein Innerstes!

New-Age-Klassiker. (Quelle)
Falls jemand an der Geschichte interessiert ist: Spanischer Schafshirt träumt von Schatz bei den Pyramiden, trifft superultraweisen Mann, der ihn bestärkt ("Folge deiner Bestimmung, Luke!"). Er geht nach Afrika, erlebt dort einige Rückschläge, findet die Liebe, trifft auf Karawane DEN Alchimisten (=Yoda), welcher ihn lehrt, auf die "Weltenseele" zu hören. Er kommt bei den Pyramiden an und ... naja, nicht gleich alles spoilern.

Auf der Buchrückseite wird "Der Alchimist" damit beworben, dass es ein modernes "Der kleine Prinz" sei. Hmm, ich fand schon "Der kleine Prinz" nicht so überwältigend, wie es viele tun. Doch wenigstens hatte diese Geschichte gegenüber "Der Alchimist" den Vorteil, nicht mal halb so lang zu sein. Außerdem war es ein Märchen, welches zauberhaft war und welches man auch kleinen Kindern vorlesen kann. Kurz: es nahm sich weißgott nicht so wichtig wie "Der Alchimist" mit seinem immer wiederkehrenden spirituellen Öko-Herz-Bestimmungs-InJedemSandkornBistAuchDu-Gefasel. Aaaaaarrrrrrrgggggghhhhhhh!



Donnerstag, 31. Mai 2012

Italo Calvino - Wenn ein Reisender in einer Winternacht


Gefährliche Lektüre! (Quelle)
Du, lieber Leser, schlägst "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" mit einem vorsichtigen Ruck auf (um das Geräusch der Dehnung des Einbandes dieses fabrikneuen Buches zu genießen). Kaum beginnst du zu lesen, da bemerkst du ein leises Zischen. Es ist kaum hörbar und kommt näher. Unmöglich zu sagen, woher genau, aber der Abstand zwischen seiner Quelle und deinen Ohren verringert sich ganz offensichtlich immer mehr. Nun wird es sogar noch lauter und scheint aus verschiedenen Richtungen zu kommen. Nein, nicht aus unterschiedlichen! Aus dem Buch! Und mit einem Male packt es dich und wirft dich, ähnlich einer aus seiner astenen Verankerung gerissenen Baumfrucht, in den unterliegenden Strom.

Der Aufprall ist gar nicht so schmerzend, wie du ihn dir während deines nur lidschlaglangen Sturz ausgemalt hast. Die Strömung ist gemächlich, aber sehr direkt. Du treibst, kommst aber nicht an die Ufer. Einige im Fluß befindliche spitz aufragende Steine pieken dich und bohren sich ein paar Milimeter in deine Haut. Das schmerzt nun schon ein wenig. Nach einiger Zeit fühlst du ein paar Verwirbelungen, welche dich wie einen Kreisel im Wind desorientiert zurücklassen. Auf einmal merkst du, dass die unter dem Wasser aufsteigende Böschung dir Standfestigkeit gibt und du am Ufer angelangt bist.

Der Strom des Lesens. (Quelle)
Doch was passiert da gerade? Eben, als du den Kopf hobst um deinen Fluchtweg zu planen, da sahst du einen Weg, der schnurstracks wieder zu deinem Heim führt. Jedoch, warum türmt sich dann auf einmal eine gewaltige Klippe vor dir auf? Du betastest sie, um ihren Realitätsgrad abzuschätzen und tatsächlich, sie ist da und ragt bedrohlich mehrere Hundert Meter vor dir auf. Aber es nützt ja nichts, du beginnst zu klettern. Anfangs sind die Griffe leicht zu finden und du kommst gut voran. Doch irgendwie vernebeln sich deine Sinne, je weiter du nach oben steigst. Du beginnst zu phantasieren. Du denkst an eine Geschichte eines einsamen Wetterstations-Meteorologen, der tief in Intrigen verstrickt ist. Sie ist spannend. Komisch, obwohl du sie kennst, kommt dir immer nur jeder nächste Satz ins Gedächtnis, wenn du gerade an ihm angelangt bist. An dem Punkt, wo ein Sturm (in der Geschichte) aufzieht und der Meteorologe, nass und verdunkelt in der Tür stehend, dich mit rachsüchtiger Stimme für seine Probleme verantwortlich macht, obwohl du ihm (den du nicht kanntest) nur helfen wolltest, als er dich bat, für eine Weile seine Station zu übernehmen, knackt etwas. Es ist der Griff, an dem du hängst! Er löst sich zielstrebig ab und befördert dich zurück in den Fluss.

Dieser Aufprall war nun schon etwas härter als vorher. Aber du bist da, wo du auch vor 20 Minuten schon warst: im Strom, getrieben, mit kleinen Felsspitzen, die dir wehtun. Trotzdem ist etwas anders. Die Strömung ist stärker und du merkst auch warum: vor dir schäumt - das Licht diffus brechend - ein kleiner Wasserfall.

Deine Anstrengungen, dem Buch zu entkommen. (Quelle)
Als du rasend schnell den Wasserhang hinab fällst, wirst du an ein weiteres Ufer gespült. Und es wiederholt sich das schon bekannte Spiel. Ein Abhang entsteht vor dir, welchen du aufsteigst. Die Geschichte, welche du nun halluzinierst (sie hat etwas mit einem Liebesdreieck in einer von der Revolution überrannten Stadt zu tun), baut sich vor dir auf. Als dir deine Geliebte eröffnet, sie sei Konterrevolutionärin und müsse dich nun umbringen, sagst du, du wärst dafür abgestellt worden, sie zu überwachen, denn sie sei Revolutionärin. In dem Moment sagt der andere... Dein Halt verringert sich und du landest abermals im Wasser.

Der dich in den Fluß stieß und die      
Gemäuer erschuf. (Quelle)
Erschöpft verfällst du, lieber Leser, du Getriebener, in eine Trance. Kann es sein, dass dieser Zyklus aus dem immer schnelleren Treiben im Strom, dem Spülen ans Land, dem Aufstieg und dem darauf folgenden Fall zurück in den Fluss sich auch in deiner Trance dauernd wiederholt? Jedenfalls türmen sich immer mehr Geschichten auf, die kurz vor ihrem spannendsten Punkt abbrechen. Es geht um Gangster, die ein verworrenes Netz von Spiegelstrukturen, von gefälschten Limousinen, von unechten Geliebten aufbauen, nur um seinen Feinden einen Schritt voraus zu sein. Es geht um mexikanische Sagengestalten, die sich an dir rächen, weil du der Sohn deines Vaters bist. Und um einen japanischen Studenten, der erst die Tochter seines Professors begehrt und dann bei der Mutter landet. Nur um zu sehen, dass alles das ein Plan des Professors war. Und jedes Mal weißt du nicht, wie es weiter geht. Jedes Mal landest du im Wasser, welches, wer weiß warum, nach jeder Geschichte ein wenig wärmer geworden ist.

Du wachst auf. Du bist auf eine magische Art und Weise ans Land gekommen und keine felsige Schutzmauer versperrt dir den Weg nach draußen. Ein wenig verwirrt ob deiner Erfahrungen der letzten Stunden, Tage oder Wochen (du bist nicht sicher), nimmst du den Weg nach Hause und fragst dich, ob dir so etwas schon mal passiert ist. Zuhause angekommen merkst du, dass "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" verschwunden ist.