Donnerstag, 31. Mai 2012

Italo Calvino - Wenn ein Reisender in einer Winternacht


Gefährliche Lektüre! (Quelle)
Du, lieber Leser, schlägst "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" mit einem vorsichtigen Ruck auf (um das Geräusch der Dehnung des Einbandes dieses fabrikneuen Buches zu genießen). Kaum beginnst du zu lesen, da bemerkst du ein leises Zischen. Es ist kaum hörbar und kommt näher. Unmöglich zu sagen, woher genau, aber der Abstand zwischen seiner Quelle und deinen Ohren verringert sich ganz offensichtlich immer mehr. Nun wird es sogar noch lauter und scheint aus verschiedenen Richtungen zu kommen. Nein, nicht aus unterschiedlichen! Aus dem Buch! Und mit einem Male packt es dich und wirft dich, ähnlich einer aus seiner astenen Verankerung gerissenen Baumfrucht, in den unterliegenden Strom.

Der Aufprall ist gar nicht so schmerzend, wie du ihn dir während deines nur lidschlaglangen Sturz ausgemalt hast. Die Strömung ist gemächlich, aber sehr direkt. Du treibst, kommst aber nicht an die Ufer. Einige im Fluß befindliche spitz aufragende Steine pieken dich und bohren sich ein paar Milimeter in deine Haut. Das schmerzt nun schon ein wenig. Nach einiger Zeit fühlst du ein paar Verwirbelungen, welche dich wie einen Kreisel im Wind desorientiert zurücklassen. Auf einmal merkst du, dass die unter dem Wasser aufsteigende Böschung dir Standfestigkeit gibt und du am Ufer angelangt bist.

Der Strom des Lesens. (Quelle)
Doch was passiert da gerade? Eben, als du den Kopf hobst um deinen Fluchtweg zu planen, da sahst du einen Weg, der schnurstracks wieder zu deinem Heim führt. Jedoch, warum türmt sich dann auf einmal eine gewaltige Klippe vor dir auf? Du betastest sie, um ihren Realitätsgrad abzuschätzen und tatsächlich, sie ist da und ragt bedrohlich mehrere Hundert Meter vor dir auf. Aber es nützt ja nichts, du beginnst zu klettern. Anfangs sind die Griffe leicht zu finden und du kommst gut voran. Doch irgendwie vernebeln sich deine Sinne, je weiter du nach oben steigst. Du beginnst zu phantasieren. Du denkst an eine Geschichte eines einsamen Wetterstations-Meteorologen, der tief in Intrigen verstrickt ist. Sie ist spannend. Komisch, obwohl du sie kennst, kommt dir immer nur jeder nächste Satz ins Gedächtnis, wenn du gerade an ihm angelangt bist. An dem Punkt, wo ein Sturm (in der Geschichte) aufzieht und der Meteorologe, nass und verdunkelt in der Tür stehend, dich mit rachsüchtiger Stimme für seine Probleme verantwortlich macht, obwohl du ihm (den du nicht kanntest) nur helfen wolltest, als er dich bat, für eine Weile seine Station zu übernehmen, knackt etwas. Es ist der Griff, an dem du hängst! Er löst sich zielstrebig ab und befördert dich zurück in den Fluss.

Dieser Aufprall war nun schon etwas härter als vorher. Aber du bist da, wo du auch vor 20 Minuten schon warst: im Strom, getrieben, mit kleinen Felsspitzen, die dir wehtun. Trotzdem ist etwas anders. Die Strömung ist stärker und du merkst auch warum: vor dir schäumt - das Licht diffus brechend - ein kleiner Wasserfall.

Deine Anstrengungen, dem Buch zu entkommen. (Quelle)
Als du rasend schnell den Wasserhang hinab fällst, wirst du an ein weiteres Ufer gespült. Und es wiederholt sich das schon bekannte Spiel. Ein Abhang entsteht vor dir, welchen du aufsteigst. Die Geschichte, welche du nun halluzinierst (sie hat etwas mit einem Liebesdreieck in einer von der Revolution überrannten Stadt zu tun), baut sich vor dir auf. Als dir deine Geliebte eröffnet, sie sei Konterrevolutionärin und müsse dich nun umbringen, sagst du, du wärst dafür abgestellt worden, sie zu überwachen, denn sie sei Revolutionärin. In dem Moment sagt der andere... Dein Halt verringert sich und du landest abermals im Wasser.

Der dich in den Fluß stieß und die      
Gemäuer erschuf. (Quelle)
Erschöpft verfällst du, lieber Leser, du Getriebener, in eine Trance. Kann es sein, dass dieser Zyklus aus dem immer schnelleren Treiben im Strom, dem Spülen ans Land, dem Aufstieg und dem darauf folgenden Fall zurück in den Fluss sich auch in deiner Trance dauernd wiederholt? Jedenfalls türmen sich immer mehr Geschichten auf, die kurz vor ihrem spannendsten Punkt abbrechen. Es geht um Gangster, die ein verworrenes Netz von Spiegelstrukturen, von gefälschten Limousinen, von unechten Geliebten aufbauen, nur um seinen Feinden einen Schritt voraus zu sein. Es geht um mexikanische Sagengestalten, die sich an dir rächen, weil du der Sohn deines Vaters bist. Und um einen japanischen Studenten, der erst die Tochter seines Professors begehrt und dann bei der Mutter landet. Nur um zu sehen, dass alles das ein Plan des Professors war. Und jedes Mal weißt du nicht, wie es weiter geht. Jedes Mal landest du im Wasser, welches, wer weiß warum, nach jeder Geschichte ein wenig wärmer geworden ist.

Du wachst auf. Du bist auf eine magische Art und Weise ans Land gekommen und keine felsige Schutzmauer versperrt dir den Weg nach draußen. Ein wenig verwirrt ob deiner Erfahrungen der letzten Stunden, Tage oder Wochen (du bist nicht sicher), nimmst du den Weg nach Hause und fragst dich, ob dir so etwas schon mal passiert ist. Zuhause angekommen merkst du, dass "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" verschwunden ist.

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